Alina Bronsky
Scherbenpark
(Hannah
Oliver)
Manchmal denke ich, ich bin die einzige
in unserem Viertel, die
noch vernŸnftige TrŠume hat. Ich habe zwei, und fŸr keinen brauche
ich mich
zu schŠmen. Ich will Vadim tšten. Und ich will ein Buch Ÿber
meine Mutter schreiben. Ich habe schon
einen Titel: ãDie
Geschichte einer hirnlosen rothaarigen Frau, die noch leben wŸrde, wenn
sie auf ihre kluge Šlteste Tochter gehšrt hŠtte.Ò Vielleicht ist
das auch nur ein Untertitel. Ich habe Zeit, es
mir genau zu Ÿberlegen, denn
ich habe noch nicht angefangen
zu schreiben. Die meisten Leute, die bei uns im
Viertel wohnen, haben gar keine TrŠume. Ich habe extra gefragt.
Und die TrŠume der wenigen, die welche haben, sind
so klŠglich, dass ich an deren Stelle
lieber gar keine hŠtte. Annas Traum zum
Beispiel ist,
reich zu heiraten. Er soll
Richter sein und Mitte drei§ig und, wenn es geht, nicht
ganz so hŠsslich. [É]Da Annas
Richter auf sich warten lŠsst, schlŠft sie gerade mit
Valentin, der auch so einen Traum
der Kategorie C hat.
Er will einen
nagelneuen schneewei§en
Mercedes. Vorher
muss er seinen FŸhrerschein machen, deswegen trŠgt er vor der
Schule AnzeigenblŠttchen aus.
[É]Ich hei§e Sascha
Naimann. Ich bin kein Kerl, auch
wenn es hierzulande
jeder denkt, der meinen Namen
hšrt. Ich habe aufgehšrt zu zŠhlen, wie
oft ich das den Leuten schon erklŠrt habe.
Sascha ist
eine Kurzform von Alexander
UND von Alexandra. Ich bin Alexandra. Mein Rufname ist
Sascha, so hat mich meine Mutter immer genannt, und so will ich auch hei§en. Wenn ich mit Alexandra angesprochen werde, reagiere ich nicht. Manchmal denke ich, dass ich
nie wieder neue Menschen kennen
lernen will, weil
ich es satt
habe, jedem das Gleiche von vorn zu erklŠren. Warum ich
Sascha hei§e. Wie lange
ich schon in Deutschland lebe. Wie ich
es in so kurzer Zeit geschafft habe, meinen Moskauer
Akzent gegen das Hochdeutsch einzutauschen, in dem ich nun erbittert
die hessischen Zischlaute bekŠmpfe, die ich zu Beginn meines
Aufenthalts von den TŸrken aus dem Nachbarblock
Ÿbernommen habe.
[É]Ich bin die einzige
aus unserem Viertel, die auf die Alfred-Delp-Schule geht. Das ist ein privates katholisches Gymnasium, und ich wei§ bis heute
nicht, warum die mich damals genommen
haben – noch weitgehend sprachlos, nicht getauft, im pink leuchtenden, von meiner farbenblinden Oma gestrickten Wollpullover. Da war die Zeit der pinkfarbenen
Pullover noch lange
nicht gekommen. An der Hand einer
Mutter, die damals nur ihr blumiges Englisch
mit einem furchtbaren Akzent sprach, dafŸr sehr
laut, und ihre flammend roten Haare offen trug.
Und in der Hand ein
Liter Milch in der Aldi-PlastiktŸte. Au§er meiner
Mutter hatten noch hunderte deutsch-katholische Architekten, €rzte und AnwŠlte ihre Kinder
angemeldet. Alles Leute, auf deren Stirn mit gro§en
Buchstaben ãSpende gern und gro§zŸgigÒ geschrieben stand.[É] Meine Mutter sagte, ich sollte meine
Schulfreunde doch mal zu uns nach
Hause einladen.
Das sagte sie, weil sie keine Ahnung hatte.
Sie lud stŠndig Freunde
ein. Ich aber war bereits
bei zwei MŠdchen aus meiner
Klasse zu Hause gewesen und konnte mir eine
Umkehrung der Situation beim besten Willen
nicht vorstellen. Keine Ahnung, was mich damals mehr erschŸttert
hatte: Die Ordnung im Zimmer meiner Klassenkameradin Melanie oder die
Mšbel, von denen ich frŸher gedacht
hatte, dass sie nur im
Katalog oder in Annas Fantasien vorkommen, oder die BettwŠsche mit Pferden. Ich hatte nie zuvor bunte BettwŠsche
gesehen. Bei uns zu Hause
gab es nur wei§e oder
hellblau gemusterte, auf jeden Fall uralt und verwaschen. Ich fragte mich,
wie man auf und unter diesen Pferden einschlafen kann, ohne Augenflimmern zu bekommen.[É]Danach sah ich
unsere Wohnung mit anderen Augen.[É]
Den Schrank ohne TŸr. Die Socken meines Stiefvaters auf der Heizung. Die Strumpfhose meines Bruders Ÿber dem
Stuhl.[É] ir besa§en damals
noch keine SpŸlmaschine, und meist tŸrmten sich alle
unsere Teller in der SpŸle, bis meine
Mutter abends heimkam und aufrŠumte. Manchmal tat ich das, aber eher
selten. Vor allem dann nicht,
wenn Vadim mich
dazu aufforderte. Nur wenn er
den Namen meiner Mutter drohend in seinen dreckigen Mund nahm, rŠumte ich
ganz schnell auf.
Ich hasse MŠnner.
[É]Seit ich
wei§, dass ich Vadim umbringen
werde, geht es mir viel
besser. Ich habe es
auch meinem kleinen Bruder Anton versprochen, der neun Jahre alt ist. Ich
glaube, seitdem geht es ihm
auch besser.[É] Am Tag darauf war meine Mutter in allen Zeitungen. Ihr Vorname, der erste
Buchstabe des
Nachnamens, Geburtsjahr
und ein Foto. Es war das Bild, das sie von ihrer Theatergruppe
hatten, ein schšnes Bild, die langen roten Haare,
das Gesicht nicht ganz so bemalt wie sonst, der
Pullover schwarz. In diesen
Tagen wurde sie ein Star.[É]
chau, freust du dich jetzt, habe
ich sie gefragt.
Hatte ich dich nicht
gewarnt? Warum hast
du diesen Arsch geheiratet?
Warum hast du ihn an diesem verdammten Abend in die
Wohnung gelassen? Du bist schon immer eine
unwahrscheinlich dumme Frau
gewesen,
habe ich zu
ihr gesagt. Wie konntest du mir das nur antun, so blšd
gewesen zu sein?
SpŠter habe ich mich bei ihr entschuldigt. Sie war eben, wie sie
war, und sie konnte nichts dafŸr. Sie war von der Sorte, die heute nicht mehr hergestellt
wird – von allem ein bisschen mehr
und ein bisschen besser und ein bisschen feiner. Und das werde ich
in meinem Buch schreiben, damit es jeder erfŠhrt.
Ich will nicht, dass sie nur
berŸhmt wird, weil sie
so elend gestorben ist. [É]
Wortschatz:
Scherbenpark: The
broken-glass Park
Kategorie C:
class C (a class C dream, a crappy dream)
AnzeigenblŠttchen:
advertising bumf
[É]in dem ich
nun erbittert die hessischen
Zischlaute bekŠmpfe, die ich zu Beginn
meines Aufenthalts von den TŸrken aus dem
Nachbarblock Ÿbernommen habe: in which I bitterly fight to eradicate the Hessian
sibilants I picked up from the Turks from a neighboring block when I moved to
Germany.
Blumig:
flowery
Sich tŸrmten: to accumulate, pile up (dishes in the sink)
Gemusterte: patterned
(sheets)