Inland von Pedro Lenz



Bitte, ich möchte dir erzählen, will dir erzählen, muss dir erzählen, werde dir erzählen, damit all die langen Jahre endlich weg sind, weit, weit, weit weg von mir.

Lass mich im Dorf anfangen, im Dorf meiner Kindheit, genau gesagt im Schulhaus, das nur nach unserem Quartier benannt war, nicht wie andere Schulhäuser, die nach einem berühmten Pädagogen benannt sind. Im Schulhaus fängt es an. Dort oben, im zweiten Stockwerk.

Frank steht nur einfach da und haut den alten Niederberger ins Gesicht.

Ich meine, das musst du dir vorstellen. Wirklich, das muss dir erst in den Kopf rein, wie der Frank da steht, so als wäre er der Lehrer, und nicht der Niederberger, so als wäre der Frank hier der Chef, als wäre er der Mann, der das Sagen hat, unser Frank, 15 Jahre Trauer im Körper, Primarschüler Oberstufe und schlägt seinen Französischlehrer ins Gesicht. Ich sag es doch. So etwas musst du dir bildlich ausmalen, um es ein bisschen verstehen zu können. […]

Der Frank bekam natürlich ein Verfahren, schon klar, eine Disziplinarstrafe, war ja keine Bagatelle, Körperverletzung und alles, logisch. Ging danach in eine Spezialschule, der Frank, musste dort hin, ob er wollte oder nicht, war halt vom Jugendgericht so angeordnet worden, sozialpädagogische Massnahme oder Anpassungsklasse oder wie immer sie es nannten, ich weiss den genauen Begriff nicht mehr. Das sind diese Beschlüsse, für die sich die Gesetzgeber bedeutende Namen ausdenken. Aber für die, die es trifft, ist es einfach eine Strafe und Punkt.


Dabei hätte es, so oder so, nicht mehr lange gedauert, mit der Schule, meine ich, ein paar Monate nur noch, dann wäre er draussen gewesen, wären wir alle gemeinsam draussen gewesen. Und wahrscheinlich hätten wir sogar zusammen die Lehre gemacht, der Frank und ich.


Sag, weisst du es noch? Nein, du kannst es nicht wissen. Viele erinnern sich möglicherweise nur noch vage daran, aber er war auch interessiert an ernsten Dingen, unser Frank. Das stimmt. Er hat sogar mit mir zusammen eine Woche geschnuppert, im Herbst 80, bei W. Bösiger AG, Hoch- und Tiefbau. Frank war begabt, das sah man gleich. Und bald wusste er einiges über Mischverhältnisse von Sand und Kalk, Zement und Wasser, konnte sich die Dinge merken, die ich meistens vergass. Ich sage es, wie es wirklich ist: Vom Talent und von der Kraft her hätte Frank ein prima Maurer werden können, unbedingt. Einmal hat ihm ein alter Polier gesagt, er habe die goldene Hand. Aus dir wird ein Guter. So hat es der Polier gesagt. Ich erinnere mich, denn ich sass daneben in dieser Baracke beim Mittagessen und wir assen Sardinen und tunkten Weissbrot im Öl und ich hätte mich unheimlich gefreut, wenn mir ein Vorgesetzter einmal etwas Ähnliches gesagt hätte.


Klar, vielleicht wäre trotzdem nichts draus geworden, also auch dann nicht, wenn er sich in dieser Französischstunde zurückgehalten hätte, wenn er dem Niederberger nichts getan hätte oder wenn er, was ja ebenfalls denkbar ist, an jenem Morgen gar nicht zur Schule gekommen wäre. Denn im gleichen Winter ist dem Frank der Vater gestorben, im genau gleichen Winter, nur wenige Tage nach dem Zwischenfall. […]




Wo war ich? Bei dieser Spezialschule, in die der Frank hat gehen müssen, nicht lange zwar, aber immerhin. Daraufhin hat er keine Lehrstelle finden können, klar, wegen der sozialpädagogischen Massnahme, das wussten alle, das musste er doch hinschreiben, bei den Bewerbungen. Und so einen wollte niemand. Dabei war er ja gar nicht so einer, wie sie gemeint haben, zumindest damals noch nicht. Und am Ende ist er zur Post, als Hilfsarbeiter auf der Bahnpost in Bern, weil die zu unserer Zeit auf der Post auch einen ohne Lehrabschluss genommen haben und die Arbeit war auch gar nicht so schlecht bezahlt, ich sage nicht schlecht bezahlt, denn ein Hochbauzeichner zum Beispiel, das weiss ich zufällig ziemlich genau, also ein Hochbauzeichner verdiente nach der Lehre einiges weniger als der Frank ohne eigenen Lehrabschluss.


Manchmal haben wir uns in dieser Zeit noch getroffen. Sei doch kein Weicher, hat er mir gesagt, der Frank, und dass ich mich vorher wehren müsse, also bevor die andern so viel getrunken hätten, dass sie auf die Idee kämen, mir die Hose auszuziehen und alles. Das war schon wahr, hat er bestimmt richtig gesagt, obwohl, so einfach war es trotzdem nicht, denn vorher wusste ich ja nicht, was sie mit mir im Sinn hatten. Und als ich es wusste, konnte ich nichts mehr dagegen tun, weil sie mir die Arme festhielten und meinen Oberkörper gegen die Tischplatte drückten, zu dritt oder zu viert, obwohl ich geschrieen und geheult habe. Frank hätte mir helfen können, aber der war, wie gesagt, längst bei der Bahnpost.


Vergessen wir es, habe ich dem Frank da gesagt. Und heute bin ich es, ausgerechnet ich, der doch damals gesagt hat, wir sollen es vergessen, also heute bin ich es, der sich daran erinnert, obwohl ich es doch gar nicht will. Aber das hat, wie gesagt, damit zu tun, dass ich immer mal wieder davon träume.


Träume sind schweinisch. Träume haben das hinterhältigste Gedächtnis, das man sich vorstellen kann. Ich werde nie verstehen, weshalb manche Leute an Träumen Freude haben. Träume sind das Böse. […]


Doch nun bin ich, ohne es zu merken, schon wieder abgeschweift, wo ich doch bloss sagen wollte, dass der Frank eher ruhig und souverän war, während ich selbst einfach nie in der Lage war, so etwas wie innere Ruhe auszustrahlen, bis heute nicht.


Die Schulzeit ging also voran, bis der Frank den Lehrer schlug. Von da weg war nichts mehr wie vorher. Mir könnte es einigermassen egal sein. Aber ich spüre, dass ich noch länger darüber reden muss, sonst bessert es überhaupt nie.



Bagatelle - an unimportant or insignificant thing; a trifle


Lehreapprenticeship, vocational training


Polierforeman


Vorgesetztersuperior, boss, manager


Hochbauzeichner - draftsman specialized in building construction/ structural engineering