Nate Roberts
Der Kaiser von China (Romanauszug)
von Tilman Rammstedt
Dass mein Großvater zu dem Zeitpunkt,
als mich seine letzte Postkarte erreichte, bereits tot war, konnte ich
nicht wissen. Ich hatte sie ungelesen beiseite gelegt, so wie ich auch
die vorangegangenen Postkarten ungelesen beiseite gelegt hatte.
Gemeinsam mit den Rechnungen und Mahnungen, zwischen denen sie fast
täglich lauerten, bildeten sie unterm Schreibtisch einen immer
waghalsigeren Stapel, den ich mit einer alten Zeitung abdeckte, auch
wenn das wenig half, ich wusste schließlich, was sich darunter
befand.
Seit fünfzehn Tagen spielte sich fast
alles unterm Schreibtisch ab. Auf allen Vieren kroch ich herum und
bewegte mich nur noch in den von außen nicht einsehbaren
Bereichen des Zimmers, die Knie mit Spülschwämmen gepolstert.
Ich schlief unterm Schreibtisch, ich schmierte mir dort Brote, ich
zeichnete einen Sternenhimmel auf die Unterseite der Tischplatte und
wartete darauf, dass die drei Wochen vorbei waren, dass ich wieder
glaubhaft aus China zurück sein konnte, um das, was es zu
erklären gab, irgendwie zu erklären, eine Erklärung
für meinen Großvater, eine für Franziska, eine für
meine Geschwister, wenn sie mich bis dahin nicht entdeckt hatten. Sechs
Tage blieben mir noch, um mir etwas einfallen zu lassen, für
Postkarten war da keine Zeit, die konnten so lange warten, und auch
mein Großvater, so glaubte ich zu wissen, konnte so lange warten,
und dann kam der Anruf, und das mit dem Warten hatte sich erübrigt.
Selbstverständlich war ich nicht ans
Telefon gegangen, seit fünfzehn Tagen schon war ich nicht mehr ans
Telefon gegangen, auf dem Anrufbeantworter hörte ich eine Frau,
die mich um einen Rückruf bat, „Es geht um Ihren
Großvater", sagte sie, und auch wenn sie noch hinzufügte:
„Es ist dringend", ahnte ich schon, dass das nicht stimmte, dass
ich es mit dem Undringlichsten der Welt zu tun hatte, ich rief
zurück, und aus meinem Großvater wurde ein toter
Großvater, und aus seiner Postkarte wurde seine letzte Postkarte,
und aus mir etwas sehr Verwirrtes und sehr Einsilbiges. „Ja",
sagte ich zu der Frau am Telefon, und „Nein" sagte ich und
„Gut", obwohl nichts gut war, weil ich nun zwar ein Problem
weniger hatte, dafür aber etliche neue, und ich legte auf, nahm
die letzte Postkarte aus dem Stapel und glaubte zu wissen, dass ich
traurig war.
Auf der Vorderseite der Postkarte war die
Statue eines dicken Mannes zu sehen, der in einer goldenen Blüte
auf einem Elefanten sitzt, die Rückseite war übersät mit
den winzigen knorrigen Buchstaben meines Großvaters, die zu
Entziffern ich schon immer mühsam fand, die nun aber, wie ich
feststellte, zu vollkommener Unlesbarkeit verkommen waren, selbst mit
einer Lupe konnte ich keine wiederkehrenden Strukturen ausmachen, noch
nicht einmal die Vokale eingrenzen. Bevor ich aufgab, hatte ich ein
„Ich" entdeckt, ein „Berg" und ein „Morgen" oder
„Mögen" oder „Magen", aber ganz sicher war ich mir da
nicht.
Nur der letzte Satz war deutlich geschrieben,
größer als der Rest und genau wie die Adresse in
Druckbuchstaben, so tief in die Karte gekerbt, dass sie sich auf der
Rückseite spiegelverkehrt in den Elefanten drückten.
„Du hättest mitkommen sollen", stand da, und dahinter hatte
mein Großvater noch ein keilförmiges Ausrufezeichen gesetzt,
das mich endgültig davon überzeugen sollte, dass es sich um
keine nette Floskel handelte, um keinen Ausdruck des zugeneigten
Bedauerns, sondern um eine handfeste Enttäuschung, um einen
Vorwurf, um eine Drohung, und weil es nun seine letzte Karte war,
drohte es besonders, als ob er nicht gestorben wäre, wenn ich
mitgekommen wäre, als ob er dann nicht in diesem gottverlassenen
Kaff, von dem ich nicht einmal genau wusste, wo es lag, auf einmal
zusammengebrochen wäre, sondern wenigstens in China, oder am
besten gar nicht, er hätte sich, wenn ich mitgekommen wäre,
nur kurz an mir festhalten müssen, „Nichts, mir ist nur
etwas schwindelig", hätte er gesagt, und ich hätte ihn zu
einer Parkbank gebracht, ihm eine Flache Wasser gekauft, weil mir
nichts anderes eingefallen wäre, weil auch nichts anderes
nötig gewesen wäre, „Geht schon wieder", hätte
mein Großvater nach ein paar Minuten gesagt und seinen Kamm
rausgeholt, die Frisur wäre sein größtes Problem
gewesen.
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"von den außen nicht einsehbaren Bereichen des Zimmers" - areas of the room that cannot be seen into from the outside
"dem Undringlichsten der Welt" - the least urgent thing(s) in the world
einsilbig - monosyllabic
spiegelverkehrt - mirrored (backwards)
keilformig - wedge-shaped
die Floskel - cliché
der Vorwurf - reproach
die Drohung - threat
das Kaff - backwater, hick town