Muttervaterkind von Anette Selg
 
Bonny Van Bibber
 
Die Frau wartet in dem abgedunkelten Zimmer, bis das Kind eingeschlafen ist. Es liegt neben dem Mann im großen Bett, in zwei Stunden wird es mit roten Backen und verschwitzten Haaren aufwachen, und dann werden sie alle drei nach vorne gehen ins Restaurant, das zu den weißen Bungalows gehört, Nachmittagskaffee trinken und der Junge wird ein Eis essen. [...]
 
[...]Vor ein paar Tagen hat sie eine Höhle in den Büschen entdeckt, eine Schlafstadt ausgelegt mit alten Bastmatten, kaputten Luftmatratzen. Mit den Dingen, die auf der Insel bleiben, wenn die Touristen wieder abreisen. Sie legt sich unter einen Sonnenschirm am Wasser, dessen eine Seite hängt wie ein gebrochener Flügel, schließt die Augen und denkt, dass ihr diese Mittagsstunden gehören wie seit langem nichts mehr. Spürt den warmen Sand unter ihren Armen und Beinen, legt eine Hand auf ihren Bauch und liest in ihrem Buch von einer Malerin in Paris, die mit zwei Männern in einem Haus lebt und sie verlässt am Ende. Vielleicht ist gerade die Einsamkeit der einzig mögliche Ort, schreibt sie in einem Brief an einen Dritten. Und die Frau denkt an ihr Berliner Wohnzimmer Schlafzimmer Kinderzimmer, an ihren Schreibtisch im Großraumbüro der Redaktion, und es erscheint ihr wie unendlicher Luxus, über eine eigene Einsamkeit zu verfügen. Am Ende der Geschichte sieht sie Theo, den Vater der Zwillinge, wie er links von ihrem Buch erscheint und dann rechts davon. Sie schaut ihm nach, während er sich bückt und etwas aufhebt aus dem flachen Wasser, Muscheln, Steine, sie kann es nicht erkennen.[...]
 
[...] Am Strand am Nachmittag liest sie weiter und denkt, es gibt keine Körper in den Geschichten, keine Haut, keine Hände, erst recht keine, die sich finden, nur unfassbare Sehnsüchte, die durch Pariser Straßen laufen oder warten, in dunklen Zimmern, Bars und Parks. Später geht sie über den menschenleeren Strand ins Wasser und sieht beim Zurückschwimmen Theo am Ufer sitzen, der Gleichgewichtsversuche macht mit großen Steinen, die er nacheinander in den Schiffsbauch legt, und nur kurz den Kopf hebt, als sie an ihm vorbeiläuft, doch spürt sie seinen Blick, bis sie wieder auf ihrem Handtuch liegt. Die Sehnsüchtigen im Buch tun alles, um sehnsüchtig zu bleiben, verbringen Tage allein im Bett, wachen die Nächte hindurch, rufen an und schreiben Briefe und legen dann auf, ohne etwas zu sagen, oder schicken ihre Briefe nicht ab.[...]
 
[...] An diesem Abend spürt die Frau das Zusammensein mit Theo, spürt, dass es Erwartungen weckt, dass ihr wolkiges Nebeneinander Konturen formt, sich abgrenzen will gegen andere Zugehörigkeiten. Und sie reagiert gereizt auf ihre Unruhe und auf den Jungen, als er die volle Limonadenflasche über ihre Bluse kippt, und will sich nicht besänftigen lassen von niemandem und bringt die Kinder nach Hause mit Theos Frau und geht danach nicht wieder zurück ins Restaurant. In ihrem Traum steht Theo vor der Berliner Wohnung und fragt sie nach einem Umschlag für ein großes zusammengerolltes Photo, auf das sie eifersüchtig ist, weil er es so behutsam umfasst, und sie findet nichts Passendes und kehrt mit leeren Händen zu ihm zurück. Als sie erwacht, geht sie ins Bad und trinkt ein Glas Wasser. Dann verlässt sie das Zimmer, setzt sich auf den Hocker vor der Tür und schaut zu, wie der Himmel sich langsam erhellt. Denkt an die glühende Sonne, die im Meer unterging und jetzt hinter dem Berg wieder aufsteigt. Sieht Theo unten stehen, wie er zu ihr nach oben schaut. Gemeinsam laufen sie über die Platten, das stopplige Gras zum Strand und legen sich in die Höhle aus Handtüchern und Bastmatten und Luftmatratzen. Einmal öffnet die Frau die Augen und sieht einen Hund am Wasser entlanglaufen, ein alter Mann folgt ihm, dann versinkt sie wieder in der Unsichtbarkeit, die sie beide umgibt, spürt Theos Fremdheit, ohne dass sie sie beunruhigen würde, stolpert nur manchmal mit ihren Händen über fremde Knochen Haut Haare. Bleibt hellwach danach, klirrendes Morgenblau durchdringt die Blätter, schwimmt und zieht sich wieder an und geht den Strand entlang nach vorn zum Restaurant. [...]
 
[...]Einmal war sie noch allein mit Theo, auf der Damentoilette des Schiffs, als sie den Kindern im Handwaschbecken die Füße wuschen, kleine weiche Fußballen einseiften und kleine Zehen. Sie hob den Kopf nicht und wollte diese Intimität nicht gespiegelt, sah auf Theos schmalen dunklen Arm neben ihrem, half ihm die Mädchen wieder anzuziehen und dachte, dass sie kein Wort mehr miteinander gewechselt hatten seit jenem Morgen.[...]
 
[...]und dachte daran, wie sie gestern Nacht noch allein am Strand spazieren gegangen war und in der Bucht hinter der Siedlung, an eine niedrige Kaimauer gelehnt, Theos Segelboot entdeckt hatte. Jemand musste es an Land gezogen haben, aus dem Wasser geholt und zur Mauer getragen. Die Sorgfalt, mit der das Boot abgestellt worden war, rührte sie, und dass es im sicheren Hafen seine Nacht verbringen würde. Aber gewünscht hätte sie ihm doch etwas anderes: Turbulente Tage auf dem weiten Meer, bevor es am Ende unterging oder zerfiel und davontrieb in alle Richtungen.
 
Eine Frau, der Mann, das Kind (ohne Namen) = ein Ehepaar, das mit ihrem Sohn im Urlaub ist
Theo - ein anderer Urlauber, der Vater der Zwillinge
 
Bastmatten - Bastmats (similar to straw beach mats)
Gleichgewichtsversuche - balancing trials
Siedlung - housing development/area
Kaimauer - quay wall
Sorgfalt - carefulness, care