Clemens J. Setz DIE WAAGE
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(...)Als Daniel am nächsten Tag in die Arbeit fahren
wollte, sah er den Hausbesitzer, Herrn Greith, im Garten. Greith trug ein
T-Shirt, auf dem eine abstrakte Wasserfläche und ein brauner Inselhügel zu
sehen waren. Auf der Insel stand eine einzelne Palme, die im Begriff war, das
Gleichgewicht zu verlieren. Etwas abseits stand Herr Gruber, ein Mieter aus dem
vierten Stock.
- Daniel!, rief Greith. Hast du unseren
Dinosaurier hier schon gesehen? Wir sind alle schon einmal darauf geritten.
Er hielt einen Zettel hoch, eine Liste
von Zahlen. Daniel konnte nur die oberste Zahl erkennen: 92. Er blinzelte und
dachte an seine schwächer werdenden Augen, da hielt ihm jemand eine Münze vors
Gesicht und er zuckte zurück.
Greith lachte, weil er Daniel
erschreckt hatte.
- Alles in Ordnung, sagte Greith. Du
bist nicht der Erste. Oder?
Gruber lachte bestätigend und deutete
auf seine Schuhe, als wäre das eine sinnvolle Ergänzung.
- Ich weiß, wie viel ich wiege,
sagte Daniel.
- Aber es macht mehr Spaß, wenn die
ganze Nachbarschaft zuschaut.
Greith klopfte ihm auf die Schulter. Er
deutete auf die Galerie der Balkone, die ernst auf die drei Männer im Garten
herunterblickten. Auf einem Balkon stand ein Kinderteleskop, dessen Hals in
einem extremen Winkel verbogen war, als hätte ihm jemand das Genick gebrochen.
Ein leichter Wind strich über die Männer, also nahm Daniel die Münze und warf
sie ein. Er ärgerte sich darüber. Er stieg für eine Sekunde auf die Waage, nur
mit halbem Gewicht, der Zeiger federte wild hin und her,
und bevor er sich eingependelt hatte, war Daniel schon wieder heruntergestiegen
und auf dem Weg zum Auto. Sein Herz schlug.
- He, rief Greith ihm nach.
Gruber wieherte vor Lachen.
Daniel wandte sich um. Greith deutete
mit dem Zeigefinger auf ihn, dann ließ er den Finger zu der Waage hin wandern.
Daniel winkte ab, und obwohl die beiden Männer längst nicht außer Hörweite
waren, tippte er auf seine Armbanduhr und stieg ins Auto.
Er hatte Schwierigkeiten, aus der
Einfahrt zu kommen. Obwohl er sich sicher war, dass die beiden ihn nicht
beobachteten, fuhr er zuerst viel zu nahe an die Hauswand heran, musste den
Vorwärtsgang wieder einlegen und alles noch einmal versuchen. Bestimmt war es
die Müdigkeit, dachte er. Wieder waren die Wände die halbe Nacht lang voll
verrückt gewordener Musik gewesen, und er war diesmal gar nicht erst
hinaufgegangen, obwohl ihn Rita mehrmals darum gebeten hatte.
Bevor er um die Ecke bog, riskierte er
einen letzten Blick zurück. Die Männer beachteten ihn gar nicht. Greith las mit
großer Geste von dem Zettel ab.
5
Wieder kam seine Frau schnaufend
an den Apparat und musste, bevor sie sprechen konnte, erst einmal Atem
schöpfen.
- Ja? Was?
Daniel hatte völlig vergessen, warum er
sie angerufen hatte. Also sagte er:
- Hast du danach noch schlafen können?
- Nein. Du?
- Doch. Ein bisschen.
- Schön für dich.
- Du bist wütend auf mich, oder? Weil
ich diesmal nicht raufgegangen bin?
Sie schwieg.
- Ich bin ja selbst wütend auf mich,
sagte er, ich war nur schon so müde ... und sich noch einmal anziehen und
hinauflatschen und sich da oben aufspielen -
- Du hättest dich nicht anziehen
müssen, korrigierte sie ihn. Für so etwas hat man einen Morgenmantel.
- Ich nicht. Ich mach so was nicht.
- Du machst so was nicht, wiederholte sie.
Ja, hab ich gemerkt.
- Nein, das meine ich nicht, sagte er.
Ich ziehe keinen Morgenmantel über meinen Pyjama und gehe dann nach oben und
läute an irgendeiner Tür.
- Nicht an irgendeiner, sagte seine
Frau gereizt.
- Bist du jetzt wütend?, fragte er.
- Ach ... Frag mich das am besten
später noch einmal.
- Ich hab's mir schon gedacht, sagte
Daniel und stand von seinem Sessel auf. Du bist immer so kurz angebunden.
- Bin ich das?
- Ja, du bist es jetzt doch auch.
- Aha.
- Da, siehst du?
- Weißt du was, lass uns das Thema
wechseln, sagte sie.
Er räusperte sich, aber der kratzige
Ton, den seine Stimme schon den ganzen Morgen hatte, ging davon nicht weg. Ihm
fiel auf, dass das Schuhband an seinem linken Schuh aufgegangen war. Er legte
den Telefonhörer zurück auf den Apparat und beugte sich unter seinen
Schreibtisch. Nachdem er den Knoten festgezogen hatte, bemerkte er, dass er den
Hörer aufgelegt hatte, ohne sich zu verabschieden.
Er starrte auf das schwarze Telefon. Er
überlegte, ob er noch einmal anrufen sollte, um sich zu entschuldigen, aber er
hatte bereits zweimal angerufen, und sie hatte etwas gereizt reagiert. Gereizt,
kurz angebunden. Außer Atem. Heute wie gestern.
Daniel drehte sich in seinem Bürosessel
hin und her. Er hatte seiner Frau gar nicht erzählt, dass sie ihn dazu genötigt
hatten, auf die Waage zu steigen. Vielleicht nicht direkt genötigt. Ich hätte
auch Nein sagen können, sagte er sich. Und außerdem, was war schon dabei? Sein
Geld war es nicht gewesen. Und für mein Gewicht, dachte er, muss ich mich nicht
schämen. Es war ein normales Gewicht.
Er hörte Musik aus dem Nebenraum und
ging zur Tür.
- Ruhe bitte, sagte er.
Zwei Kollegen, die erst vor einer Woche
in der Firma angefangen hatten, blickten verwundert auf. Aber anstatt das
Radio, das in Harmlosigkeit erstarrte Volksmusik von sich gab, leiser zu
stellen, warteten sie, bis Daniel sich wieder in sein Büro zurückgezogen hatte.
(...)
Vokabeln:
Die Waage- Scales
wiegen- to wiegh
Gewicht- weight
Zeiger- needle
federte- swung
wieherte vor Lachen-
laughed out loud
längst nicht außer
Hörweite- well within earshot
schnaufend- out of
breath
schwieg- didn’t say
anything
kurz angebunden-
curt