Martin von Arndt

Martin von Arndt

Der Tod ist ein Postmann mit Hut (Romanauszug)

 

Ines wollte mich nicht allein lassen mit einer toten Mutter, mit dem Nachlaß einer toten Mutter, mit dem Nachlaß einer toten Mutter in meinem Kopf, bevor sie, Ines, mich allein ließ. Ich hatte ernsthaft damit gerechnet, mich an ihrer Brust ausweinen zu können, eine sanfte, eine stille Reinigung zu erfahren, die sich einigend auf unsere Beziehung auswirken würde. Doch in den drei Tagen, in denen wir uns auf Mutters Nachlaß warfen, waren wir weiter voneinander entfernt denn je. Meine Frau leistete die Hauptarbeit, sie suchte, alles Unangenehme, alles, was nach Problemen aussah, von mir fernzuhalten. Sie entmüllte die Wohnung meiner Mutter, die kurz vor der Verwahrlosung gestanden hatte. Sie sortierte, ordnete, gab den Entrümplern Anweisungen, sie bestach die Friedhofsgärtner wegen der Grabpflege, sie sprach mit dem greisenhaften Notar, der nur zu vermelden hatte, daß von meinem Erbe nichts geblieben sei, Mutter lebte ein kostspieliges Leben, das dem ersten Anschein trotzte. Ines rückte mir in all dem übriggebliebenen Kindheitsplunder näher als mir je ein Mensch gekommen war. Und das trieb sie endgültig fort von mir. Diese Nähe schien an ihr, an uns zu kleben. Ines fürchtete, floh meine Berührung, sie versagte sich mir. Vielleicht, weil ich noch immer ein Teil dieser Mutter war, deren schmutzige Inkontinenzeinlagen sie aus der verstopften Toilette zog, und immer ein Teil von ihr bleiben würde, das wäre, was überhaupt von dieser Mutter bleiben würde.

Während dieser Zeit schliefen wir in einem Instanthotel. Ines hatte darauf gedrängt, sie wollte wenigstens die Nächte nicht in Mutters Wohnung verbringen. Am Abend vor unserer Abreise war sie noch schweigsamer. Alles war geregelt. Endgültig. Wir würden nur den Gummibaum mitnehmen, der ihr leid tat. Sie kam aus der Dusche, warf sich mit nassen Haaren, die sie sich mittlerweile auf Schulterlänge hatte wachsen lassen, auf das Bett und rieb sich die Schläfen. Sie schien Kopfschmerzen zu bekommen. Mit ihrer dunklen, heiseren Stimme, die mich von Beginn unserer Beziehung an bezaubert hatte, stöhnte Ines:

»Geh mir doch bitte ein Wasser holen, Jo.«

Das Kreisen der Finger an ihrer Schläfe wurde nachdrücklicher, ich eilte die Treppen hinab. Ich wollte Ines das beste Wasser holen, das sie je getrunken hatte. Ein Wasser, das ihr nicht nur die Kopfschmerzen nähme, nein, eines, das meine Wertschätzung für die Anstrengungen der letzten Tage enthielte, eines, das diese Tage komplett vergessen machte, das unsere Beziehung auf eine völlig neue Basis stellte.

Der Getränkeautomat stand verwaist im halbdunklen Eingangsbereich. Ich warf eine Münze ein, eine LED zeigte den aktuellen Kontostand an: +01,00 €. Daneben warnte ein Aufkleber davor, leere Fächer anzuwählen. Ich suchte die Nummer meines Getränks aus, es gab überhaupt nur noch Wasser, in vier aufeinanderfolgenden Fächern, die übrigen Hotelbesucher schienen sich mit Bier am Leben zu halten. Vorsichtig überprüfte ich die Nummer und wählte aus. Nichts geschah. Dann bewegte sich eines der Fächer müde, quietschte wie zur Versicherung, daß sich überhaupt etwas tat, doch die Flasche fiel nicht, das Entnahmefach blieb leer. Für einen Moment flimmerte die Zahl, die die LED anzeigte, -01,00 € leuchtete auf, dann sprang sie zurück auf 00,00. Ich stand da, hatte kein Kleingeld mehr. Wieder einmal alles falsch gemacht, dachte ich, als ich nach oben schlich.

›Gekauft wie gesehen‹, schien ihr Blick sagen zu wollen. Ines hatte sich längst mit Leitungswasser beholfen.

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Wortschatz:

Nachlaß – estate

Verwahrlosung – neglect

Greisenhaft – senile

Kostspielig – expensive

geregelt – settled

Schläfen – temples

heiser – hoarse

verwaist – deserted

Gekauft wie gesehen‹ – what you see is what you get