Ilse Aichinger (1921 -  )

 

Die größere Hoffnung (Roman, 1948)

 

Wie ein großes, dunkles Wappen war der Spiegel.  Mitten darin stand der Stern.  Ellen lachte glücklich.  Sie hob sich auf die Fußspitzen und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.  Dieser wunderbare Stern.  Dieser Stern in der Mitte.

Der Stern war dunkler als die Sonne und blasser als der Mond.  Der Stern hatte große, scharfe Zacken.  Wenn es dämmerte, wurde sein Radius undefinierbar wie der einer fremden Handfläche.  Ellen hatte ihn heimlich aus der Nähschachtel geholt und an ihr Kleid gesteckt.

„Laß dir das nicht einfallen“, hatte die Großmutter gesagt, „sei froh, daß er dir erspart bleibt, daß du ihn nicht tragen mußt wie die andern!“  Aber Ellen wußte es besser. Dürfen, so hieß das Wort: Dürfen.  Sie seufzte tief und erleichtert.  Wenn sie sich bewegte, bewegte sich auch der Stern im Spiegel.  Wenn sie sprang, sprang der Stern und sie durfte sich etwas wünschen.  Wenn sie zurückwich, wich der Stern mit ihr.  Sie legte vor Glück die Hände an die Wangen und schloß die Augen.  Der Stern blieb.  Er war seit langem die geheimnisvollste Idee der geheimen Polizei gewesen.  Ellen nahm den Saum ihres Rockes zwischen die Finger und drehte sich im Kreis, sie tanzte. [....]

Ellen lächelte nachdenklich dem Stern im Spiegel zu.  Die Großmutter wollte Gewißheit haben.  Zwischen zwei Spiegeln.  Wie ungewiß war alle Gewißheit.  Gewiß war das Ungewisse, und es wurde immer gewisser seit der Erschaffung der Welt. [....]

Sie riß den Stern vom Kleid, ihre Hände zitterten.  Leuchten mußte man, wenn es so dunkel war, und wie sollte man leuchten, wenn nicht durch den Stern?  Sie ließ sich das nicht verbieten, nicht von der Großmutter und nicht von der geheimen Polizei.  Rasch, mit großen ungeschickten Stichen nähte sie ihn an die linke Mantelseite.  Sie saß auf dem Tisch und hielt den Kopf dicht darüber gebeugt.  Dann schlüpfte sie in den Mantel, schlug die Tür hinter sich zu und rannte die Treppe hinunter. [....]

Erst die Torte im halbhellen Schaufenster der Konditorei brachte sie zum Stehen.  Die Torte war weiß und glänzend, und darauf stand mit rosa Zuckerguß „Herzlicher Glückwunsch“.  Die Torte war für Georg, sie war der Friede selbst.  Rötliche, gefältelte Vorhänge umgaben sie von allen Seiten wie durchschimmernde Hände.  Wie oft waren sie hier gestanden und hatten geschaut.  Einmal war es eine gelbe Torte gewesen und einmal eine grüne.  Aber heute war sie am schönsten.

Ellen stieß die Glastür auf.  In der Haltung eines fremden Eroberers betrat sie die Konditorei und ging mit großen Schritten auf den Ladentisch zu.  „Guten Abend!“ sagte die Verkäuferin abwesend, hob den Blick von den Fingernägeln und verstummte.

„Herzlichen Glückwunsch“, sagte Ellen, „diese Torte möchte ich.“  Lang und feucht hing ihr Haar über den alten Mantel.  Der Mantel war viel zu Kurz und das Schottenkleid schaute zwei Handbreit darunter hervor.  Aber das allein hätte es nicht gemacht.  Was den Ausschlag gab, war der Stern.  Ruhig und hell prangte er an dem dünnen, dunkelblauen Stoff, so als wäre er überzeugt davon, daß er am Himmel stand.

Ellen hatte das Geld vor sich auf den Ladentisch gelegt, sie hatte seit Wochen gespart.  Sie wußte den Preis.

Die Gäste ringsum hörten zu essen auf.  Die Verkäuferin stützte die dicken, roten Arme auf die silberne Kassa.  Ihr Blick saugte sich an dem Stern fest.  Sie sah nichts als den Stern.  Hinter Ellen stand jemand auf.  Ein Sessel wurde gegen die Wand gestoßen.

„Bitte die Torte“, sagte Ellen noch einmal und schob das Geld mit zwei Fingern näher an die Kassa.  Sie konnte sich diese Verzögerung nicht erklären.  „Wenn sie mehr kostet“, murmelte sie unsicher, „wenn sie jetzt vielleicht mehr kostet, so hole ich den Rest, ich habe noch etwas zu Hause.  Und ich kann mich beeilen—„  Sie hob den Kopf und sah in das Gesicht der Verkäuferin.  Was sie sah, war Haß.

„Wenn Sie bis dahin noch offen haben!“ stammelte Ellen.

„Schau, daß du verschwindest!“

„Bitte“, sagte Ellen ängstlich, „Sie irren sich.  Sie irren sich bestimmt.  Ich will die Torte nicht geschenkt haben, ich will sie kaufen!  Und wenn sie mehr kostet, so bin ich bereit, ich bin bereit—„

„Du bist nicht gefragt“, erklärte die Verkäuferin eisig, „geh!  Geh jetzt, sonst lasse ich dich verhaften!“ [....]

„Wenn sie mehr kostet“, begann Ellen zum dritten Mal.  Ihre Lippen zitterten.

„Sie kostet mehr“, sagte einer von den Gästen.

Ellen sah an sich hinab.  Plötzlich wußte sie den Preis für die Torte.  Sie hatte ihn vergessen. Sie hatte vergessen, daß die Leute mit dem Stern Geschäfte nicht betreten durften, noch weniger eine Konditorei.  Der Preis für die Torte war der Stern. 

„Nein“, sagte Ellen, „nein, danke!“

Die Verkäuferin packte sie am Kragen.  Jemand stieß die Glastür auf.  In der halbhellen Auslage stand die Torte.  Sie war die Friede selbst. 

Der Stern brannte wie Feuer.  Er durchsengte den blauen Matrosen mantel und trieb Ellen das Blut in die Schläfen. Man hatte also zu wählen.  Man hatte zu wählen zwischen seinem Stern und alle übrigen Dingen.

Ellen hatte die Kinder mit dem Stern beneidet, Herbert, Kurt und Leon, alle ihre Freunde, sie hatte ihre Angst nicht verstanden, aber nun saß ihr der Griff der Verkäuferin wie ein Frösteln im Nacken.  Seit die Verordnung in Kraft war, hatte sie um den Stern gekämpft, aber nun brannte er wie glühendes Metall durch Kleid und Mantel bis auf die Haut. 

Und was sollte sie zu Georg sagen?