Alfred Andersch (1914-1980)

 

Die Kirschen der Freiheit (Ein Bericht, 1952)

 

[...]

Ich hatte mich entschlossen, 'rüber zu gehen, weil ich den Akt der Freiheit vollziehen wollte, der zwischen der Gefangenschaft, aus der ich kam, und derjenigen, in die ich ging, im Niemandsland lag. Ich wollte 'rüber, weil ich mir damit aufs neue das Recht erwarb, Bedingungen stellen zu können, auf die ich mir schon in der Vergangenheit einen Anspruch erworben hatte; ich wollte diesen fast verjährten Anspruch erneuern. Ich wollte 'rüber, weil es absurd gewesen wäre, wenn ich auch nur einen Schuß gegen einen Gegner abgeben hätte, der niemals mein Gegner sein konnte. Für mich gab es kein Schützloch, aus dem ich heraus hätte feuern können.

Und außerdem wollte ich natürlich 'rüber, weil ich Angst hatte, ins Feuer zu kommen und, sinnlos oder nicht sinnlos, sterben zu müssen.

Könnte nun den vorigen Absatz streichen und erzählen, daß ich eigentlich sehr mütig gewesen bin, weil ich die Gefahr des Todes im Kampfe mit der wahrscheinlich viel größeren Gefahr vertauschte, während meiner Desertion von der Feldpolizei aufgegriffen und sogleich hingerichtet zu werden. Könnte so in der Tat aus meinem Buch eine heroische kleine Story machen.

Sie hätte nur den geringfügigen Nachteil, nicht zu stimmen.

[…]

Kopflose Furcht hat mich nur einmal in meinem Leben ergriffen, im Herbst 1933, in jener Zelle des Münchner Gestapo-Gefängnisses, als ich zum zweitenmal verhaftet worden war. Die Furcht und ihre höchste Steigerung, der Schrecken, kommen von außen auf den Menschen zu, während die Angst in ihn eingeschlossen ist. Sie gehört, ebenso wie der Mut, zu seiner Natur. Zwischen Angst und Mut treten die beiden anderen natürlichen Eigenschaften des Menschen, Vernunft und Leidenschaft. Sie führen die Entscheidung, die er zwischen Mut und Angst zu treffen hat, herbei. In jenem winzigen Bruchteil einer Sekunde, welcher der Sekunde der Entscheidung vorausgeht, verwirklicht sich die Möglichkeit der absoluten Freiheit, die der Mensch besitzt. Nicht im Moment der Tat selbst ist der Mensch frei, denn indem er sie vollzieht, stellt er die alte Spannung wieder her, in deren Strom seine Natur kreist. Aufgehoben wird sie nur in dem einen flüchtigen Atemhauch zwischen Denken und Vollzug. Frei sind wir nur in Augenblicken. In Augenblicken, die kostbar sind.

Mein Buch hat nur eine Aufgabe: einen einzigen Augenblick der Freiheit zu beschreiben.[…]

 

'rüber zu gehen - Fahnenflucht, Desertion