Thomas Bernhard (1931 - 1989)

 

Der Geldbriefträger (Erzählung, 1964)

 

Der Geldbriefträger flüchtet mit seiner gefüllten Ledertasche über die Grenze. Er durchschwimmt den Fluß und rettet sich auf einen aus dem Dickicht hervorstehenden Aststumpf. Er zieht seine Schuhe aus und streunt barfuß durch den Wald. Je weiter er sich von seinem Dorf entfernt, desto düsterer wird die Landschaft. Schließlich ist er der Finsternis ausgeliefert. Er muß über Moosflächen kriechen und reißt sich die Knie auf. Nach seiner Zeitrechnung müßte es längst wieder Tag geworden sein. Aber die Finsternis verändert sich nicht. Selbst Schreie, die er, auf einem gefällten Baumstamm sitzend, hervorstößt, haben kein Echo. Dann entdeckt er plötzlich: ich darf nicht schreien! Er sieht ein Licht, die Umrisse eines Bauernhauses. Er nähert sich, zieht die Geldtasche hinter sich her. Er klappt die Tasche auf und zu und schleppt sich wieder fort. Er denkt: Ich darf nicht hingehen! Der Hunger beginnt seine Arbeit und wirft ihn schließlich fiebernd in einen Graben. Vor dem Aufprall erwacht er und stellt fest, daß alles nur ein Traum war, von dem nichts übriggeblieben ist als sein fiebriger Körper. Er steht auf und geht hinaus. Er macht einen Spaziergang und legt sich erst um vier Uhr früh wieder schlafen. Trotzdem gibt er am darauffolgenden Tag die Stelle als Geldbriefträger auf und läßt sich versetzen. Seiner Frau sagt er, daß er lieber in der Stadt leben möchte, unter vielen Menschen, die Finsternis wäre dort nicht so groß.