Wolfgang Borchert
(1921-1947)
Draußen vor der Tür (Schauspiel, 1946)
[…] Das ist das Leben! Ein Mensch ist da, und der
Mensch kommt nach Deutschland, und der Mensch friert. Der hungert und der
humpelt! Ein Mann kommt nach Deutschland! Er kommt nach Hause, und da ist sein
Bett besetzt. Eine Tür schlägt zu, und er steht draußen.
Ein Mann kommt nach Deutschland! Er findet ein
Mädchen, aber das Mädchen hat einen Mann, der hat nur ein Bein und der stöhnt
andauernd einen Namen. Und der Name heißt Beckmann. Eine Tür schlägt zu, und er
steht draußen.
Ein Mann kommt nach Deutschland! Er sucht Menschen,
aber ein Oberst lacht sich halb tot. Eine Tür schlägt zu, und er steht wieder
draußen.
Ein Mann kommt nach Deutschland! Er sucht Arbeit,
aber ein Direktor ist feige, und die Tür schlägt zu, und wieder steht er draußen.
Ein Mann kommt nach Deutschland! Er sucht seine
Eltern, aber eine alte Frau trauert um das Gas, und die Tür schlägt zu, und er
steht draußen.
Ein Mann kommt nach Deutschland! Und dann kommt der Einbeinige
- teck - tock - teck - kommt er, teck - tock, und der Einbeinige sagt:
Beckmann. Sagt immerzu: Beckmann. Er atmet Beckmann, er schnarcht Beckmann, er
stöhnt Beckmann, er schreit, er flucht, er betet Beckmann. Und er geht durch
das Leben seines Mörders teck - tock - teck - tock! Und der Mörder bin ich.
Ich? Der Gemordete, ich, den sie gemordet haben, ich bin der Mörder? Wer schützt
uns davor, dass wir nicht Mörder werden? Wir werden jeden Tag ermordet, und jeden
Tag begehn wir einen Mord! Wir gehen jeden Tag an einem Mord vorbei!
Und der Mörder Beckmann hält das nicht mehr aus,
gemordet zu werden und Mörder zu sein. Und er schreit der Welt ins Gesicht: Ich
sterbe! Und dann liegt er irgendwo auf der Straße, der Mann, der nach
Deutschland kam, und stirbt. Früher lagen Zigarettenstummel, Apfelsinenschalen
und Papier auf der Straße, heute sind es Mensehen, das sagt weiter nichts. Und
dann kommt ein Straßenfeger, ein deutscher Straßenfeger, in Uniform und mit
roten Streifen, von der Firma Abfall und Verwesung, und findet den gemordeten
Mörder Beckmann. Verhungert, erfroren, liegen geblieben. Im zwanzigsten
Jahrhundert. Im fünften Jahrzehnt. Auf der Straße. In Deutschland. Und die Menschen
gehen an dem Tod vorbei, achtlos, resigniert, blasiert, angeekelt und
gleichgültig, gleichgültig, so
gleichgültig! Und der Tote fühlt tief in seinen Traum
hinein, dass sein Tod gleich war wie sein Leben: sinnlos, unbedeutend, grau.
Und du - du sagst, ich soll leben! Wozu? Für wen? Für was? Hab ich kein Recht
auf meinen Tod? Hab ich kein Recht auf meinen Selbstmord? Soll ich mich weiter
morden lassen und weiter morden? Wohin soll ich denn? Wovon soll ich leben? Mit
wem? Für was? Wohin sollen wir denn auf dieser Welt? Verraten sind wir.
Furchtbar verraten. Wo bist du, Anderer? Du bist doch sonst immer da!
Wo bist du jetzt, Jasager? Jetzt antworte mir! Jetzt
brauche ich dich, Antworter! Wo bist du denn? Du bist ja plötzlich nicht mehr
da! Wo bist du, Antworter, wo bist du, der mir den Tod nicht gönnte! Wo ist
denn der alte Mann, der sich Gott nennt?
Warum redet er denn nicht!!
Gebt doch Antwort!
Warum schweigt ihr denn? Warum?
Gibt denn keiner eine Antwort?
Gibt keiner Antwort???
Gibt denn keiner, keiner Antwort???