Bertolt
Brecht (1898-1956)
Kritik
der
Einfühlung (Essay, um 1938 (?) entstanden; erst 1963
veröffentlicht)
1
Der Ausdruck "nichtaristotelische
Dramatik"
bedarf der
Erläuterung. Als aristotelische Dramatik, von der sich
abgrenzend eine nichtaristotelische sich definieren will, wird da
alle Dramatik bezeichnet, auf welche die aristotelische Definition
der Tragödie in der Poetik in dem, was wir
für ihren
Hauptpunkt halten, paßt. Die bekannte Forderung der drei
Einheiten betrachten wir nicht als diesen Hauptpunkt, sie wird vom
Aristoteles auch gar nicht erhoben, wie die neuere Forschung
festgestellt hat. Uns erscheint von größtem
gesellschaftlichem Interesse, was Aristoteles der Tragödie als
Zweck setzt, nämlich die Katharsis, die Reinigung des
Zuschauers
von Furcht und Mitleid durch die Nachahmung
von furcht- und mitleiderregenden Handlungen. Diese
Reinigung
erfolgt auf Grund eines eigentümlichen psychischen Aktes, der
Einfühlung des Zuschauers in die handelnden
Personen, die
von den Schauspielern nachgeahmt werden. Wir bezeichnen eine Dramatik
als aristotelisch, wenn diese Einfühlung von ihr
herbeigeführt wird, ganz gleichgültig, ob unter
Benutzung
der vom Aristoteles dafür angeführten Regeln oder
ohne
deren Benutzung. Der eigentümliche psychische Akt der
Einfühlung wird im Laufe der Jahrhunderte auf ganz
versehiedene
Art vollzogen.
2
Kritik der
Poetik
Solange
der Aristoteles
(im vierten Kapitel der Poetik) ganz allgemein
über die
Freude an der nachahmenden Darstellung spricht und als Grund
dafür das Lernen nennt, gehen wir mit ihm. Aber schon im
sechsten Kapitel wird er bestimmter und begrenzt für die
Tragödie das Feld der Nachahmung. Es sollen nur die furcht-
und
mitleiderregenden Handlungen nachgeahmt werden, und es ist eine
weitere Begrenzung, daß sie zum Zweck der Auflösung
von
Furcht und Mitleid nachgeahmt werden sollen. Es wird ersichtlich,
daß die Nachahmung handelnder Menschen durch die Schauspieler
eine Nachahmung der Schauspieler durch die Zuschauer auslösen
soll; die Art der Entgegennahme des Kunstwerks ist die
Einfühlung in den Schauspieler und über ihn in die
Stückfigur.
3
Einfühlung beim
Aristoteles
Nicht
daß wir
beim Aristoteles als Art der Entgegennahme des Kunstwerks durch den
Zuschauer die Einfühlung finden, die heute als
Einfühung in
das Individuum des Hochkapitalismus vorkommt. Dennoch haben wir bei
den Griechen, was immer wir uns unter der Katharsis, die unter uns so
fremden Umständen vor sich ging, vorstellen mögen,
als
deren Basis irgendeine Art von Einfühlung zu vermuten. Eine
völlig freie, kritische, auf rein irdische Lösungen
von
Schwierigkeiten bedachte Haltung des Zuschauers ist keine Basis
für eine Katharsis.
4
Verzicht auf
Einfühlung nur zeitweilig?
Man kann leicht annehmen, daß der Verzicht auf die Einfühlung, dem näherzutreten die Dramatik unserer Zeit sich gezwungen sah, ein durchaus zeitweiliger Akt sei, resultierend aus der schwierigen Lage der Dramatik des Hochkapitalismus - muß sie doch ihre Darstellungen menschlichen Zusammenlebens einem Publikum abliefern, das in allerschärfstem Klassenkampf liegt, und darf sie doch nichts tun, denselben zu beschwichtigen. [...]
http://de.wikipedia.org/wiki/Episches_Theater