Max Frisch (1911 - 1991)

 

Der Autor und das Theater (Essay, 1967)

 

Um vorn Theater als Theater zu sprechen: [...] unterhalten wir uns über die Frage, ob die heutige Welt denn auf dem Theater noch abbildbar sei; es war Dürrenmatt, der diese Frage formulierte, und Sie kennen die ebenso bekannte Antwort von Brecht, daß die heutige Welt auch auf dem Theater wiedergegeben werden könne, aber nur wenn sie als veränderbar aufgefaßt werde. Die Frage ist bestürzender als die Antwort, bestürzend durch die Unterstellung, daß die Welt einmal abbildbar gewesen sei. Wann? Was Aeschylos und Sophokles auf die Bühne brachten, war nicht Abbildung der griechischen Gesellschaft, sondern ein mythologischer Entwurf. Bei Aristophanes könnte man schon eher von einer Abbildung der vorhandenen Welt sprechen; auch er kann es nur machen, indem er sie spiegelt in einer entworfenen Welt, von der Groteske her; sie hebt die Menschen aus der vorhandenen Welt in eine erdichtete, und sei's auch, um sie fallen zu lassen, um die Fallhöhe zu zeigen. Abbildung? Man möchte es doch anders benennen. Calderon? Ich vermute, daß das Theater niemals die vorhandene Welt abgebildet hat; es hat sie immer verlindert. Shakespeare? Sein Werk ist universal; aber ist es eine Abbildung der vorhandenen Welt seiner Zeit? Schon sie, könnte ich mir denken, war pluralistischer, als irgendeines seiner Stücke sie zeigt; seine Stücke sind uns geblieben, nicht die vorhandene Welt seiner Zeit, und daß wir die Stücke nachträglich für eine Abbildung dessen halten, was nicht mehr vorhanden ist, das ist eine Täuschung, die naheliegt, aber eine Täuschung. Schiller? Kleist? Büchner? Tschechow? Strindberg? Je näher wir der Gegenwart kommen, je mehr wir die vorhandene Welt kennen, desto deutlicher wird uns wie unabbildbar sie ist, die komplexe Realität; ein Stück, selbst ein großes, ist immer nur ein Stück: eine Engführung, eben dadurch eine Erlösung für Stunden. Wie immer das Theater sich gibt, ist es Kunst: Spiel als Antwort auf die Unabbildbarkeit der Welt. Was abbildbar wird, ist Poesie. Auch Brecht zeigt nicht die vorhandene Welt. Zwar tut sein Theater, als zeige es, und Brecht hat immer neue Mittel gefunden, um zu zeigen, daß es zeigt. Aber außer der Gebärde des Zeigens: was wird gezeigt? Sehr viel, aber nicht die vorhandene Welt, sondern Modelle der brecht-marxistischen These, die Wünschbarkeit einer anderen und nichtvorhandenen Welt: Poesie. Es ist kein Zufall, daß seine Stücke, ausgenommen die fragmentarischen Szenen von "Furcht und Elend im Dritten Reich", nicht im heutigen Deutschland spielen, sondern in China, im Kaukasus, in Chicago, im Dreißigjährigen Krieg, im Italien des Galilei; keines in Ost-Deutschland. Warum nicht?  [...] Wer selber schreibt, erfährt den Grund sehr bald; man muß verändern, um darstellen zu können, und was sich darstellen läßt, ist immer schon Utopie. [...]

[...] Was treibt uns denn zu der schwierigen Arbeit, ein Stück zu schreiben, und zu allen daraus folgenden Arbeiten, das Stück auf die Bühne zu bringen? Wir erstellen auf der Bühne nicht eine bessere Welt, aber eine spielbare, eine durchschaubare, eine Welt, die Varianten zuläßt, insofern eine veränderbare, veränderbar wenigstens im Kunst-Raum. Brecht, man weiß es, war ein unermüdlicher Probierer, das heißt: ein Veränderer, dabei voller Lust und dann alles andere als ein Dogmatiker, kein Welt-Erzieher. Ofter als ich es erwartete, brauchte er das Wort: schön. Oder: unschön. Sogar den Ausdruck: die elegantere Lösung. Und in einem Brief die Wendung: Schönheit produzieren. Als ginge es nur um Lösungen im Kunst-Raum.[…]