Jürgen Fuchs (1950 - 1999)

 

Fassonschnitt (Roman, 1984)

 

Ich gehe die Schulgasse hinauf mit dem Koffer, in dem ist, was vorgeschrieben wurde auf einem Blatt Papier: Socken, Rasierzeug, weiße Kragenbinden, Schuhcreme, Bürsten, Nähzeug, Handtücher, Unterwäsche und die schwarze Reisetasche, der "Reiselord".

"Wohin gehst du?"

"Ich gehe zur Armee."

"Ach", sagt sie und lächelt.

Ich weiß nicht, wohin ich gehe. Ich habe Geschichten gehört, die endeten immer: Auch das geht vorbei. Aber jetzt sollte es beginnen.

Die Schulgasse hinauf mit dem Koffer. Da ist die Altstadtschule, über der Tür, halbrund, in großen Buchstaben: "I. polytechnische, allgemeinbildende zehnklassige Oberschule". Schnell vorbei, den kleinen steilen Berg hinauf, Richtung Marktplatz, Richtung Bahnhof, Richtung Wehrkreiskommando, Richtung Friseur.

"COIFFEUR" steht über der Tür, daneben die Eisdiele, geschlossen, es ist zu früh, 9 Uhr und ein paar Minuten. Zwei Kugeln Vanille, eine Zitrone. Zu früh, kurz nach neun, dort ist die Uhr, kreisrund, Rat des Kreises, Rat der Stadt.

Dort hinein, den Koffer abstellen, keiner ist vor dir. Du kommst gleich an die Reihe. Eine junge Frau, ein Mädchen:

"Wie möchten Sie es haben?"

Dann sieht sie in den Spiegel, lächelt, lächelt nicht mehr.

"Zur Armee gehst du ..."

"Ja."

"Ach", sagt sie.

"Kurz, hinten kurz."

"Ja", sagt sie, "ich weiß."

"Aber nicht zu sehr. Und an den Seiten, nicht zu sehr."

"Nein", sagt sie und beginnt zu schneiden.

Der Koffer steht bei den Stühlen, keiner wartet. Die Spiegel, die Gerüche, Haarwasser, Dauerwelle. Im hinteren Raum sprechen Frauen. Sie sitzen unter Hauben und lesen Illustrierte, "FÜR DICH" und "FF-DABEI". Für dich, wer bin ich? Wer werde ich sein in wenigen Stunden? Wer ist das da, am Tag der Einberufung, in diesem Friseursessel?

Die Schulgasse hinauf. Einberufung. Wer hat denn gerufen? Das Vaterland? Der Sozialismus? Noch einmal umdrehen, zur "Schönen Aussicht" hinübersehen, dort unten ist Mylau, das Eltwerk, die stillgelegten Kühltürme, das Werk, in dem der Vater arbeitet. Das Göltzschtal, das Transformatorenwerk, das salpeterzerfressene, rötlich-weiße Gesicht der kleinen Häuser am Hang. Webergasse, Färbergasse. Verstecke, Spiele, Schnee, Weihnachten, Ferien, Freistunden, Zahnarztgeruch. Eine Klammer für die Schneidezähne. Sanitätsrat Dr. Johannes Ott. Die Schlägereien im Wartezimmer, bevor die Sprechstunde begann. Fünfzehn Kieferregulierungen warten auf einen Arzt. […]

Die Schulgasse hinauf. Den Reisekoffer mit dem Reißverschluß in der rechten oder linken Hand. Achtzehn Monate sind nicht viel. Und sind eineinhalb Jahre. Das Weinen kommt. Und darf nicht kommen, weil es losgeht, weil das Leben beginnt und seine Befehle erteilt. Im Koffer obenauf eine schwarze Tasche wie vorgeschrieben für "Urlaub und Ausgang". Und ein Buch, nein, nicht Semprun, "Die große Reise", nein, nicht. Sein Buch steht im Bücherschrank. Sein Abtransport, sein Güterwagenweg ins Lager. Der Junge aus Semur ist tot. Ein Zögern ist da, eine Angst, ein Wegschieben: ein anderes Buch.

So schlimm wird es nicht werden. Das läßt sich nicht vergleichen. Ein anderes Buch. Bobrowski, Gedichte, "Wetterzeichen".

"COIFFEUR" steht über der Tür.

Sie schneidet vorsichtig, behutsam, fast zärtlich. Sie ist jung, eine Freundin, eine Friseuse. Einer wird jeden Abend warten auf einem Motorrad. Sie läßt sich Zeit, schneidet, gleicht aus, hält skeptisch den zweiten Spiegel:

"Na, da muß noch was weg. Sonst regen sie sich auf."

Woher weiß sie?

Saßen noch andere in diesen Sesseln?

Bestimmt. Ganze Jahrgänge saßen hier. Zehn, zwanzig, vielleicht zweihundert aus einer kleinen Stadt wie dieser. Jahr für Jahr.

"So müßte es gehen."

Cape abbinden, abbürsten, 1 Mark 60. Danke. Alles Gute. Den Koffer nehmen, über den Marktplatz gehen, halb Kopfsteinpflaster, halb Asphalt. "Alles Gute."