Peter Hacks (1928 - 2003)

 

Wie Gedichte zu machen, oder:

Rechtfertigung gegenüber Belinden. Fünfter Brief (Essay, 1974)

 

[...] Das Gerüst, den ungefähren Ablauf der Sache, haben wir schnell. Das ist eine Frage der Einbildungskraft und der Übung. Man hat einigermaßen im Griff, wie man derlei baut; wir brauchen sehr wenig Gegenständliches oder Erörterndes im Gedicht, und dass, was wir hineintun, nicht belanglos ist, hierfür bürgt der Einfall. Die Durchführung ist ein Spiel, den Kummer machen die Worte. Im Gedicht sind die Worte rar, mithin teuer. Kein Wort darf zufällig sein. Jedes muss treffen, jedes tausend Dienste leisten; Nachricht vermitteln, Haltung ausdrücken, das Versmaß herstellen (und es aber doch zugleich, innerhalb eines schicklichen Rahmens, ein wenig anzweifeln), Klang und Farbe geben und sich vielleicht endlich noch reimen. Das alles gilt mehr oder minder für die Worte in den redseligeren Gattungen auch, aber es gilt doch eher minder. Mit den Worten eines Dramas muss man streng sein, mit denen eines Gedichts ist man unbarmherzig. Jedes Wort eines Gedichts muss zu jedem anderen Wort des Gedichts in einem genauen und künstlerisch befriedigenden Verhältnis stehen. Welche Anstrengung. Und im Gedicht, das von Gemut zu Gemut sprechen soll, ist jeder Anschein von Angestrengtheit vernichtend. Welch übergroße Anstrengung also.

Ich mache es so.

Ich schaffe mir einen größtmöglichen Vorrat von Worten, - nicht irgendwelchen, sondern solchen, die hergehören könnten. Ich vervielfältige das, was ich vorerst habe und einmal den Rohstoff nennen will. Ich nehme nicht, wie Kunst sonst, die doppelte Menge an Rohstoff, die ich dem mir zur Verfügung stehenden Platz nach brauche; ich nehme mindestens die zehnfache. Ich besorge mir eine Stoffüberfülle. Ich suche mir alle erdenklichen Weisen, meinen Entwurf vorzubringen, zusammen. Ich sammle Gedanken, Bilder; Gefühle, Gelegenheiten des Abschweifens und des Überspringens; ich beschaffe Wörter, Reime, rhythmische Verfahren; - und sie alle müssen dasselbe sagen. Mit den Zutaten, die der Lyriker für ein Gedicht nicht benutzt hat, sollte er das nämliche Gedicht mindestens noch ein Mal anders schreiben können.

Diesen Vorrat von anwendbarem Zeug vergleiche ich gern dem Oparinschen Koazervat-Ozean; Sie entsinnen sich, Belinde? Um das Leben zustande zu bringen, bedurfte die Natur einer unendlichen dicken Suppe, breiig von Klümpchen, welche Vorformen des Lebens waren: nicht mehr tot und noch nicht lebendig. Jedes von ihnen war willig, ein Lebewesen zu werden, aber es war eine Frage des Zufalls und der glücklichen Bedingungen, welches von ihnen wirklich dazu ausersehen war. Wo ein Gedicht entsteht, entsteht Lebendiges aus Totem, und es so entsteht auf keine andere Weise als vormals das Leben aus den halb lebendigen Zuständen des Stoffs.

Das Schreiben des Gedichts selbst wieder verursacht kaum Mühe; der Dichter ist nur mehr Ordner der Koazervate. Der Gedanke reimt sich nicht? Einen anderen. Der auch nicht? Noch einen anderen. Die Stimmung geht nicht in einem Wort zu sagen? Lassen wir sie weg, wir haben ihresgleichen unzählige. Das Bild passt nicht zum Gefuhl. Benutzen wir ein anderes. Oder ein anderes Gefuhl. Es ist eine Lust, zu schöpfen, wenn es aus dem Vollen geht.[...]

 

(1) Der sowjetrussische Biochemiker Alexandr Iwanowitoch Oparin (1894-1980) leistete wesentliche Beiträge zur Erforschung der Entstehung des Lebens; gemeint ist hier die sogenannte "Ursuppe".