Peter Handke (1942 -  )

 

Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (Essay, 1967)

 

[...] Seit ich erkannt habe, worum es mir, als Leser wie auch als Autor, in der Literatur geht, bin ich auch gegenüber der Literatur, die ja wohl zur Wirklichkeit gehört, aufmerksam und kritisch geworden. Ich erwarte von einem literarischen Werk eine Neuigkeit für mich, etwas, das mich, wenn auch geringfügig, ändert, etwas, das mir eine noch nicht gedachte, noch nicht bewußte Möglichkeit der Wirklichkeit bewußt macht, eine neue Möglichkeit zu sehen, zu sprechen, zu denken, zu existieren. Seitdem ich erkannt habe, daß ich selber mich durch die Literatur habe ändern können, daß mich die Literatur zu einem andern gemacht hat, erwarte ich immer wieder von der Literatur eine neue Möglichkeit, mich zu ändern, weil ich mich nicht für schon endgültig halte. Ich erwarte von der Literatur ein Zerbrechen aller endgültig scheinenden Weltbilder. Und weil ich erkannt habe, daß ich selber mich durch die Literatur lindern konnte, daß ich durch die Literatur erst bewußter leben konnte, bin ich auch überzeugt, durch meine Literatur andere ändern zu können. Kleist, Flaubert, Dostojewski, Kafka, Faulkner, Robbe-Grillet haben mein Bewußtsein von der Welt geändert.

Jetzt, als Autor wie als Leser, genügen mir die bekannten Möglichkeiten, die Welt darzustellen, nicht mehr. Eine Möglichkeit besteht für mich jeweils nur einmal. Die Nachahmung dieser Möglichkeit ist dann schon unmöglich. Ein Modell der Darstellung, ein zweites Mal angewendet, ergibt keine Neuigkeit mehr, höchstens eine Variation. Ein Darstellungsmodell, beim ersten Mal auf die Wirklichkeit angewendet, kann realistisch sein, beim zweiten Mal schon ist es eine Manier, ist irreal, auch wenn es sich wieder als realistisch bezeichnen mag.

Eine solche Manier des Realismus gibt es heute etwa in der deutschen Literatur. Weithin wird mißachtet, daß eine einmal gefundene Methode, Wirklichkeit zu zeigen, buchstäblich "mit der Zeit" ihre Wirkung verliert. Die einmal gewonnene Methode wird nicht jedesmal neu überdacht, sondern unbedacht übernommen.

Es wird so getan, als sei die Beschreibung dessen, was positiv ist (sichtbar, hörhar, fühlbar...), in sprachlich vertrauten, nach der Übereinkunft gebauten Sätzen eine natürliche, nicht gekünstelte, nicht gemachte Methode. Die Methode wird überhaupt für die Natur gehalten. Eine Spielart des Realismus, in diesem Fall die Beschreibung, wird für naturgegehen gehalten. Man bezeichnet diese Art der Literatur dann auch als "unliterarisch", "unpreziös", "sachlich", natürlich (der Ausdruck "dem Leben abgelauscht" scheint sich nicht durchgesetzt zu haben). Aber in Wirklichkeit ist diese Art der Literatur genau so wenig natürlich wie alle Arten der Literatur bis jetzt: nur der Gesellschaft, die mit Literatur zu tun hat, ist die Methode vertraut geworden, so daß sie gar nicht mehr spürt, daß die Beschreibung nicht Natur, sondern Methode ist. Diese Methode wird im Augenblick nicht mehr reflektiert, sie ist schon rezipiert worden. Unreflektiert verwendet, steht sie der Gesellschaft nicht mehr kritisch gegenüber, sondern ist einer der Gebrauchsgegenstände der Gesellschaft geworden. Dem Lesenden leistet die Methode keinen Widerstand mehr, er spürt sie gar nicht. Sie ist ihm natürlich geworden, sie ist vergesellschaftet worden. Neuigkeiten allerdings werden auf diese Weise nicht mehr vermittelt. Die Methode ist zur Schablone geworden. Das hat zur Zeit einen sehr trivialen Realismus zur Folge. [...]

 

Bewohner des Elfenbeinturms - In den 60er Jahren Bezeichnung für (wissenschaftliche) "Fachidioten".

 

 

Interview im Juni 2006 !