Stefan Heym (1913 - 2001)

 

[Jedes Zeitalter hat seine Sprecher] (Essay, 1965)

 

Jedes Zeitalter hat seine Sprecher, die die Ängste und Hoffnungen der Menschen zum Ausdruck bringen. Im grauen Altertum waren das die Propheten. Heute, in der Ara des Atoms und der Revolution, da wir rapide Fortschritte machen auf unserer Suche nach dem Warum und dem Wie von Mensch und Universum, scheinen Schriftsteller und Naturwissenschaftler diese Funktion zu übernehmen. Die Gesellschaft hat diesen Tatbestand anerkannt: In den technisch fortgeschrittenen Ländern gehören die Schriftsteller und die Naturwissenschaftler zu der am meisten geehrten - und am meisten verfolgten Kategorie von Menschen. Rechnet man den Infarkt als gleichwertig mit der Gewehrkugel und der Schlinge des Henkers, so sind mehr Schriftsteller und Naturwissenschaftler in Verfolgung ihrer Pflicht gefallen als Generäle oder Bankiers oder Politiker. Vom Schriftsteller zu sprechen, ist es das Wort, das ihm seine Macht gibt und seine Verantwortung auferlegt. Millionenfach multipliziert durch die modernen Massenkommunikationsmittel, hat dieses flüchtige Wort neue Dimensionen erhalten, eine neue Qualität. Und obwohl andere die Kommunikationsmittel in der Hand haben mögen und gewöhnlich auch haben, ist der Schriftsteller der Urquell: Es ist sein Wort, das verbreitet wird, nicht das des Verlegers, der Redaktion, des Filmproduzenten. Es ist sein Wort, das die Dinge zum Guten oder zum Bösen in Bewegung setzen kann.

Man kann geltend machen, dass die wirkliche Macht anderswo liegt. Gewiss.  Aber was ist eine Macht, die sich nicht mitteilen kann, sich nicht in den Mantel moralischer Berechtigung hüllen kann, der nur aus einem Material gewebt wird: dem Wort?

Man kann geltend machen, dass das Wort, das Wort der Schriftsteller, noch nie einen Krieg aufgehalten, nie ein Konzentrationslager verhutet, nie den Stiefel des Unterdrückers vom Nacken des Unterdrückten gestohlen hat. Gewiss. Aber das entbindet uns nicht der Pflicht, es zu versuchen.

Und wer wagte zu behaupten, dass nichts erreicht wurde durch das Wort des Schriftstellers? Nichts erreicht von Dickens, von Zola, von Tolstoi? Und kann denn die Wirkung des Wortes nur gemessen werden am Maßstab der durch so dieses Wort erzeugten unmittelbaren Aktion? Ist die Wirkung des Wortes nicht vielmehr eine indirekte, die sich im Herzen der Menschen verkapselt, um, manchmal Jahre später, in unerwarteter Explosion zum Vorschein zu treten? Die dem Wort immanente Eigenschaft, Aktion zu erzeugen, veranlässt die Mächtigen dieser Welt, den Schriftsteller, den Intellektuellen, den "Egghead" mit einem aus Respekt und Misstrauen gemischten Gefühl zu betrachten. Dieses Gefühl findet seinen administrativen Ausdruck in einem Schauer von Medaillen, Preisen und akademischen Sinekuren einerseits und andererseits in einer Zensur, die mit ökonomischem Druck oder Furcht oder beidem arbeitet. Ich wüsste heute kaum ein Land zu nennen, das ohne Tabus wäre; der Schriftsteller muss diese beachten oder muss, wenn er das nicht zu tun gewillt ist, sich dauernd fragen: Werde ich meine Sache gedruckt bekommen oder nicht? [...]

 

Sinekuren - Muheloses, einträgliches Amt (Latein: sine cura = ohne Sorge).