Uwe Johnson (1934 - 1984)

 

Das dritte Buch über Achim (Roman, 1962)

 

[...]Da dachte ich schlicht und streng anzufangen so: sie rief ihn an, innezuhalten mit einem Satzzeichen, und dann wie selbstverständlich hinzuzufügen: über die Grenze, damit du überrascht wirst und glaubst zu verstehen.  Kleinmütig (nicht gern zeige ich Unsicherheit schon anfangs) kann ich nicht anders als ergänzen daß es im Deutschland der fünfziger Jahre eine Staatsgrenze gab; du siehst wie unbequem dieser zweite Satz steht neben dem ersten.  Dennoch würde ich am liebsten beschreiben daß die Grenze lang ist und drei Meilen vor der Küste anfängt mit springenden Schnellbooten, junge Männer halten sie in den Fernglässern, scharf geladene Geschütze reichen bis zu dem Stacheldrahtzaun, der heranzieht zum freundlichen Strand der Ostsee, in manchen frei gelegenen Dörfern auf der einen Seite waren die Kirchtürme von Lübeck zu sehen der anderen Seite, zehn Meter breit aufgepflügt drängt der Kontrollstreifen in den eigens gerodeten Wald, die Karrenwege und Trampelfade sind eingesunken und zugewachsen, vielleicht sollte ich blühende Brombeerranken darüberhängen lassen, so könntest du es dir am Ende vorstellen. Dann hätte ich dir beschrieben die Übergänge für den Verkehr auf der Straße auf Schienen in der Luft: was du sagen mußt bei den Kontrollen (und was man dir sagt) auf der einen und der anderen Seite, wie die Baracken unterschiedlich aussehen und die Posten unähnlich grüßen und das schreckhafte Gefühl der fremden Staatlichkeit, das sogar Karsch anfiel beim Überfahren des Zwischenraums, obwohl er doch schon oft in fremden Ländern gewesen war ohne auch nur ihre Sprache zu haben.  Aber der und sein Aussehen und der Grund seiner Reise sind bisher weniger wichtig als der naturhaft plötzliche Abbruch der Straßen an Erdwällen oder in Gräben oder vor Mauern; ich gebe zu: ich bin um Genauigkeit verlegen.  Ich meine nicht die Zahl von zehn Metern, es können ja sieben sein unter den Schnee oder unter der ersten wärmenden Sonne, die aus dem aufgerissenen Boden einen grünen Flaum unnützer Keime holt, ich meine: der Boden soll in  ausreichender Breite locker sein, damit Schritte erkennbar sind und verfolgt werden können und noch angehalten.  Nun erwarte von mir nicht den Namen und Lebensümstande für eine wild dahinstürzende Gestalt im kalten Morgennebel und kleine nasse Erdklumpen, die unter ihren Tritten auffliegen, wieder reißt der stille Waldrand unter menschlichen Sprüngen auf, eifriges dummes Hundegebell, amtliche Anrufe, keuchender Atem, ein Schuß, unversehens fällt jemand hin, das wollte ich ebenso wenig wie der Schütze es am besten behaupten sollte gegen Ende seines Lebens; ich hatte ja nichts im Sinn als einen telefonischen Anruf, der nicht als Kundenwunsch erledigt sein sollte vor dem Westdeutschland-Schrank des Fernamtes mit der Stimme des Mädchens, das den Kunden zum Warten abhängt, die Leitstelle ruft und sagt: Gib mir Hamburg.