Brigitte Kronauer (1940 -   )

 

Rita Münster (Roman, 1983)

 

Petra, nun wieder, die an einem hellgrauen Apriltag die Augen aufschlägt und sieht, wie ein leichter Wind die Zweige bewegt. Sie fühlt, dass die Welt heute ein Dickicht ist, nichts Bekanntes ist diesmal, auf den ersten Blick darin, und sie, Petra, muss die Schneisen darein schlagen. Sie macht sich ans Werk für eine kostbare Stunde und fragt sich nicht, aber später, ob die Landschaft, die Dinge und Menschen von ihr geliebt werden um ihrer selbst willen oder als wertvolle, in ihrer Konzentration, in ihrer Schönheit und Hässlichkeit schwer zu erringende Beute. Was sie spürt, ist eine Aufregung, ein Jagdfieber angesichts jeder noch nicht erfassten Beobachtung, Empfindung, und sie rennt herum und steht still. Atemlos und routiniert, ja profihaft beugt sie sich über die Wahrnehmungen dieser Stunde, bloß jetzt, wo sie so glücklich liegen, kein grober Windhauch, bis sie in ihrem Besitz sind. Aber ganz genau weiß sie nicht, ob sie sich nicht in Wirklichkeit unter dem Einfluss eines Schriftstellers, eines gestern gelesenen Buches befindet. Sagen sich die Sätze, ihre Eroberungen, nicht von selbst in ihrem Kopf auf und ziehen in Form jener Dichtersätze durch ihr Gehirn? Eines ist deutlich: Es ist eine Sache des Entschlusses, ob sie ihre Gefühle einzeln, wörtlich, gegenwärtig macht. Sie kann sich über sie neigen und sie mit Anstrengung und Geschick packen oder sie unerkannt vorübertreiben lassen. Dann hat sie etwas verloren, versäumt und kneift eine Weile böse die Augen zu, auch wenn sie ihr Kind ansieht und ihren freundlichen Mann.

Ich las einen Beitrag zur Literaturgeschichte, sagte sie mir, "gleich mach' ich mich an den Kriterien, am Glanz der großen Werke, lächerlich, komisch vielleicht, aber fand ich nicht zu allem bei mir eine Entsprechung? Eine Begeisterung erfasste mich über den Zusammenhang mit der großen Literatur, mit den Leistungen und Zielen der Dichter. Meine Zugehörigkeit! Flaubert, Joyce! Ja! Ja. Proust: Da trat zutage, was schon immer meine Absichten waren. Und so weiter!" Aber dann zog sie schon bald wieder die Mundwinkel zu einem leidenden Lächeln nach unten, denn es kam ihr der Zweifel, ob nicht alles, was sie aus Eigenstem bisher geschrieben hatte, nur das Werk des Zeitgeistes und als leichter Abdruck mühelos in sie eingesunken war. Welchen Zweck hatten dann alle erkämpften Minuten oder halben Tage?

Nun aber ich selbst. Nachts halte ich mich manchmal rechts und links vom Körper am Laken fest als letzter Rettung und sage mir Namen auf, die meiner besten Freunde, auch Buchtitel. Vergangenheit und Gegenwart sehe ich als gewaltigen, unterschiedlich dichten Block, davor eine schaumige Masse: die Zukunft, die Zentimeter für Zentimeter erstarrt und sich verfestigt, bis sie Vergangenheit wird. Wenn ich sterbe, falle ich von den letzten, versteinerten Schaumgebilden hinunter in das Flüssige, das mich auflöst zu seinesgleichen. Lange hatte ich das Gefühl, alle Menschen, Dinge usw. waren letztlich genauso alt wie ich. Sicher, ich sah, dass es junge Hunde und alte Dame gab, aber in einem grundsätzlicheren Sinn war das alles von einem Anbeginn mit mir zugleich vorhanden. Es war nur mit unterschiedlicher Wachstumsschnelle aus dem Zeitboden herausgeschossen. Aber irgendwann trieben die Dinge und Menschen unaufhaltsam auseinander. Es gab das unerreichbar Fremde, Uralte vor mir und das unerreichbar Jüngere. Diese alte Wildsau (viel jünger als ich), dieser würdige alte Hund, jünger! Ein Zurückweichen des Lebens, der Welt. Alles existierte ohne mein Zutun, ohne Gemeinschaft mit mir zu haben oder anzustreben, es sah alles in eine andere Richtung von seinem Entstehen an. […]