Günter Kunert (1929 - )

 

Religion (Essay, 1981)

 

Der Marxismus ist der letzte, bereits verweltlichte Glaube. Letzter darum, weil ihm die Transzendenz fehlt. Stattdessen enthält er die Utopie als Endziel und Aufgabe; das sakulasierte Himmelreich. Dieser Glaube, glaubhaft durch seine wissenschaftlichen Bestandteile sowie durch die leibliche oder/und seelische Not potentieller Gläubiger, durch ihre Blindheit gegenüber historischer Erfahrung, muss stärker als jeder vorhergehende eines Tages die Gläubigen entäuschen, da sich die chiliastische Harmonie, zu der die Theorie hinführen soll, genauso wenig realisieren lässt wie ein Leben im Jenseits. Darum muss der Verfall dieser Religion, nachdem sie die Welt erobert hat, die Menschen auf die Sinnesleere ihres Seins zurückwerfen; Damit werden sie einst leben müssen. Eine neue Sinngebung, angereichert mit utopischen Elementen, ist deswegen unmöglich, weil Religion, gleichgültig welche, prinzipiell in der Praxis statt das Eigengewicht der Inhalte zu bekunden, etwa Moralität vom jeweiligen Herrschaftssystem abzukoppeln, die Notwendigkeit für ihre Anhänger betont, sich angesichts des Nichts einer möglichen Abhängigkeit und Fremdbestimmung anheimzustellen. Erst wurde die persönliche Verantwortung ins All projiziert, dann in die Zukunft, wo sie, genau wie bei tatsächlichen Lichtbildprojektionen, ungeheure Vergrößerung erfuhr, namens welcher getan werden durfte, wozu eigenes Selbstbewusstsein nicht fähig gewesen wäre.

Wird erst einmal die Wahrheit bekannt, dass alles Zueinanderverhalten, alles Produzieren und technisches Fortschreiten nur unterm einfärbenden Schein jeweiligen Glaubens stattfindet, hingegen nichts von ihm kausal bewirkt wird, erhält jeder zum ersten Male die ungeahnte Freiheit, zu sich selber zu kommen, sich selber als Sinn zu erfahren, nicht das Absolute - heiße es, wie es wolle.

 

chiliastisch - Die Lehre von drei Zeitaltern (Joachim von Fiore 1130-1202)

anheimstellen - to leave to (not from)