Reiner Kunze (1933 - )

 

Hier (Erzählung, 1976)

 

Freitagvormittag ist Vorlesungsschluß, der kommende Montag Staatsfeiertag (1), und da der Staat ein Vierteljahrhundert besteht, wird am Freitag, fünfzehn Uhr, vom Flußbahnhof ein Sonderzug mit eintausend Jugendlichen nach der Hauptstadt abfahren, mit eintausend Auserwählten, zu denen sie, die beiden Studenten, nicht gehören, zu denen keiner ihres Studienfachs gehört, nur zieht's auch sie in die Metropole, hinaus aus der kleinen Universitätsstadt, auch sie hungert's nach Erlebnissen - Theologie hin, Theologie her. Sie fragen nach in den Büros, ob nicht doch noch eine Teilnehmerkarte... aber nein, Kopfschütteln, Bedauern, und da sie genötigt sind, mit der Mark zu rechnen, rechnen sie mit der Wahrscheinlichkeit: Von eintausend Menschen werden mindestens zwei erkranken, für die sie einspringen werden. Und um recht unauffällig einspringen zu können, zieht der eine sein Blauhemd an, der andere schnürt den Anorak bis obenhin zu, was auf dem Bahnhofsplatz gut ins Bild paßt, denn viele tragen den Anorak über dem Blauhemd, und als eine Fünfzigergruppe abgezählt hat, zählen sie sich beim Abmarsch dazu und dürfen den polizeilich abgesperrten Bahnsteig durch den polizeilich abgesperrten Bahnhofszugang betreten. Der Doppelstockwagen bietet Sitzplätze genug, und nur, als der Gruppenleiter die Namen aufzurufen und auf einer Liste abzuhaken beginnt, ziehen sie es vor, auf die Plattform zu gehen und eine Zigarette zu rauchen. Auch die zweite Kontrolle, bei der nicht der Name aufgerufen, sondern jeder nach seinem Namen gefragt wird, überstehen sie auf der Plattform, und sie suchen sie auch zum dritten und vierten Mal auf, als die Teilnehmerkarten vorgezeigt werden müssen und die Quartiere vergeben werden. Inzwischen fährt der Zug, Plätze werden getauscht, man geht von unten nach oben und von hüben nach drüben, und auf den Knien liegen die ersten Taschen, um den Skatkarten als Unterlage zu dienen. Da tritt ein Herr im Mantel auf die beiden Studenten zu, fordert sie auf, ihre Teilnehmerkarten vorzuzeigen, bittet um ihre Personalausweise, behält sie ein und sagt: "Kommen Sie mit!" Das Verhör in einem der Sonderabteile an der Spitze des Zugs währt nicht lange, denn die Wahrheit ist kurz. Ihnen wird befohlen, auf dem Gang zu warten, und als sie dort eine gute Stunde gestanden haben, hält der Zug, der nirgends halten sollte, sie sind in H., der Bahnsteig ist von Polizisten besetzt, und über Lautsprecher sagt eine Stimme, die Worte pausenlos wiederholend: "Bitte, nicht aussteigen! Türen nicht öffnen!", was selbstverständlich nicht für den Transportpolizisten aus dem Sonderabteil gilt. Als hätten ihnen der Lokführer das Trittbrett genau vor die Stiefel gefahren, stehen vor der Tür vier Polizisten und blicken nach den Studenten. Die beiden haben einen Zug benutzt, den zu benutzen sie nicht berechtigt waren. Da kann man nicht beide Augen zudrücken und sagen: Wenn ihr einmal da seid, wird sich auch ein Quartier für euch finden. Da kann man auch nicht nur ein Auge zudrücken und sagen: Um Quartier müßt ihr euch selbst kümmern. Man kann auch nicht einfach den Zugführer rufen, damit er ihnen den Fahrpreis abverlangt, selbstverständlich mit Zuschlag, oder den doppelten Fahrpreis - zur Strafe. Jugend hin, Jugend her. Da wird abgeführt.

 

(1) Staatsfeiertag der DDR: Gründung der Deutschen Demokratischen Republik am 7. Oktober 1949 (Annahme der Verfassung).