Heinrich Mann (1871 - 1950)

 

Die Jugend des Königs Henri Quatre (1935)

 

Die Blässe des Gedankens

 

[…] Dies war ein Redner(1) von neuer Art. Er schäumte beim ersten Wort, und seine rohe Stimme überschlug sich zum weibischen Gekreisch. Er predigte den Hass gegen die Gemäßigten. Nicht nur die Protestanten sollten verabscheut werden bis zur Vernichtung. In einer Nacht der langen Messer(2) und der rollenden Köpfe(3) wollte Boucher besonders abrechnen mit den Duldsamen, auch wenn sie sich katholisch nannten. Die Schlimmsten waren ihm in beiden Religionen die Nachgiebigen, die sich bereit fanden zur Verständigung und dem Land den Frieden wünschten. Den sollte das Land nicht haben, und Boucher behauptete tobend, dass es ihn gar nicht aushalten würde, weil er gegen seine Ehre wäre. Der Schmachfriede(4) und aufgezwungene Vertrag mit den Ketzern würde hiermit zerrissen. Laut schrien der Boden und das Blut(5) nach Gewalt, Gewalt, Gewalt, nach einer kraftvollen Reinigung von allem, was ihnen fremd wäre, von einer faulen Gesittung, einer zersetzenden Freiheit(6).

 

Die gedrängte Masse bis hinter den Altar und in die entferntesten Kapellen bestätigte durch wildes Stöhnen, dass sie weder Gesittung noch besonders Freiheit zu dulden gewillt war. Die Leute drückten einander tot, um bis unter die Kanzel zu gelangen und den Redner zu erblicken. Sie sahen nichts als ein aufgerissenes Maul, denn Boucher war von verkrümmter Gestalt, er ragte nur wenig über den Rand. Dagegen spuckte er weithin. Seine Sprache entartete leicht zum Gebell, und was an ihr menschliches war, hatte doch kaum etwas zu tun mit den hier bekannten Lauten; es klang ausländisch und angelernt. Mehrmals konnte man glauben, jetzt bräche bei ihm die Fallsucht aus, und man sah sich schon nach Wärtern um: Da klappte Boucher den Kiefer zu und lächelte holdselig in die Runde, wodurch er die Herzen gewann. Mit neuem Atem beilte er weiter, schnappte zu und machte Miene, einen Andersgesinnten aus der Menge zu holen und ihn aufzufressen. [...]

 

Boucher machte ihnen klar, das ganze System(7) des Staates wäre zwar verbrecherisch, aber Gott hätte ihnen einen Führer gesandt! Dort steht er! Alle knieten denn auch hin, besonders die im Verdacht der Mäßigung standen. Kühn über sie so fort und dreist zu Gott hinan blickte Guise(8) - in silberner Rüstung(9), als sollte der Sturm auf die Macht gleich losgehen, und seine Bewaffneten rasselten mit Eisen. Natürlich hatte die Königinmutter(10) ihre Spione hier, und die gingen jetzt gewiss hin und übertrieben ihr die Furchtbarkeit Lothringens. Man musste dagegen aus nahem Umgang wissen, dass er ein eitler Schlagetot und Goliath war, gehörnt überdies. Man musste sein Freund sein, dann führte man ihn auf das richtige Maß zurück und freute sich sogar an ihm. Den hass ich? Ja doch. Aber was ist das: Hass? [...]

 

 

(1)        Anspielung auf Joseph Goebbels, der ab 1929 als Reichspropagandaleiter der NSDAP und ab 1933 als Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda diente. 

 

(2,3) Anspielungen auf Parolen der Nationalsozialisten.

 

(4) Anspielung auf die Kritik am Versailler Friedensvertrag. 

 

(5, 6) Anspielungen auf die Blut- und Boden-Ideologie sowie den Antiliberalismus der Nationalsozialisten.

 

(7) Die Nationalsozialisten bezeichneten die demokratisehen Parteien der Weimarer Republik als ,,Systemparteien".

 

(8) Herzog Henri von Guise (Nebenlinie des Hauses Lothringen) gründete 1576 die ,,Heilige Liga" zur volligen Ausrottung der Hugenotten (Protestanten) in Frankreich.

 

(9) Als gepanzerter Ritter ließ sich Hitler darstellen.

 

(10) Sie war Katharina von Medici.