Thomas Mann (1875 - 1955)

 

Die Kunst des Romans (Essay, 1940)

 

[…]Erlauben Sie mir das persönliche und unakademische Bekenntnis, daß der Kunstgattung eben, dem Genius der Epik selbst meine Liebe und mein Interesse gehören, und sehen Sie es mir nach, wenn ein Vortrag über "Die Kunst des Romans" mir unversehens zum Lobe des epischen Kunstgeistes selber wird. Es ist ein gewaltiger und majestätischer Geist, expansiv, lebensreich, weit wie das Meer in seiner rollenden Monotonie, zugleich großartig und genau, gesanghaft und klug-besonnen; er will nicht den Ausschnitt, die Episode, er will das Ganze, die Welt mit unzähligen Episoden und Einzelheiten, bei denen er selbstvergessen verweilt, als käme es ihm auf jede von ihnen besonders an. Denn er hat keine Eile, er hat unendliche Zeit, er ist der Geist der Geduld, der Treue, des Ausharrens, der Langsamkeit, die durch Liebe genußreich wird, der Geist der verzaubernden Langenweile. Anzufangen weiß er kaum anders als mit dem Urbeginn aller Dinge, und enden mag er überhaupt nicht, von ihm gilt das Wort des Dichters: ,.Daß du nicht enden kannst, das macht dich groß.' Aber seine Größe ist mild, geruhig, heiter, weise, - "objektiv". Sie nimmt Abstand von den Dingen, sie hat Abstand von ihnen ihrer Natur nach, sie schwebt darüber und lächelt auf sie herab, so sehr sie zugleich den Lauschenden oder Lesenden in sie verwickelt, in sie einspinnt. Die Kunst der Epik ist "apollinische" Kunst, wie der ästhetische Terminus lautet; denn Apollo, der Fernhintreffende, ist der Gott der Ferne, der Gott der Distanz, der Objektivität, der Gott der Ironie. Objektivität ist Ironie, und der epische Kunstgeist ist der Geist der Ironie.

Hier werden Sie stutzen und sich fragen: Wie, Objektivität und Ironie, was hat das miteinander zu tun? Ist nicht Ironie das Gegenteil der Objektivität? Ist sie nicht eine höchst subjektive Haltung, Ingredienz eines romantischen Libertinismus, welcher aller klassischen Ruhe und Sachlichkeit als ihr Widerpart gegenübersteht? - Das ist richtig. Ironie kann diese Bedeutung haben. Aber ich gebrauche das Wort hier in einem weiteren, größeren Sinn, als der romantische Subjektivismus ihm verleiht. Es ist ein in seiner Gelassenheit fast ungeheurer Sinn: der Sinn der Kunst selbst, eine Allbejahung, die eben als solche auch Allverneinung ist; ein sonnenhaft klar und heiter das Ganze umfassender Blick, der eben der Blick der Kunst, will sagen der Blick höchster Freiheit, Ruhe und einer von keinem Moralismus getrübten Sachlichkeit ist. Es war der Blick Goethes, - der in dem Grade Künstler war, daß er über die Ironie das seltsam-unvergeßliche Wort gesprochen hat: "Sie ist das Körnchen Salz, durch das die Aufgetischte überhaupt erst genießbar wird." Nicht umsonst war er zeit seines Lebens ein so großer Bewunderer Shakespeares; denn in dem dramatischen Kosmos Shakespeares herrscht in der Tat diese Welt-Ironie der Kunst, die sein Werk dem Moralisten, der Tolstoi zu sein sich bemühte, so verwerflich erscheinen ließ. Von ihr spreche ich, wenn ich von dem ironischen Objektivismus der Epik spreche. Sie dürfen dabei nicht an Kälte und Lieblosigkeit, Spott und Hohn denken. Die epische Ironie ist vielmehr eine Ironie des Herzens, eine liebevolle Ironie; es ist die Größe, die voller Zärtlichkeit ist für das Kleine. [...]