Kathrin Passig (1970 - )

 

Sie befinden sich hier (Erzählung, 2006)

 

Wenn man im Winter in eine missliche Lage gerät, weil es beispielsweise früher dunkel wird als gedacht, Schneetreiben einsetzt oder man den Weg verloren hat, gibt es zwei Möglichkeiten. Ist damit zu rechnen, dass man in absehbarer Zeit gefunden und gerettet wird, vergräbt man sich im Schnee und wartet ab. Kennt man dagegen den Weg zur nächsten Unterkunft und ist ein Rettungseinsatz vorerst nicht zu erwarten, sollte man in Bewegung bleiben. Die Frage, was zu tun ist, wenn beides nicht zutrifft, wird in der Literatur höflich ausgespart. Ich habe mich daher für einen Kompromiss entschieden. Meine Art der Fortbewegung ähnelt ein wenig der eines Maulwurfs oder, wie ich mir vorstelle, der eines Menschen, der versucht, die Erde unter sich zu drehen. Ob ich mich bewege oder ob sich der Untergrund relativ zu mir bewegt – das Ergebnis ist in beiden Fällen dasselbe: Ich komme ans Ziel. Letztlich würde sogar die Bewegung der Erde durch das All genügen, den Ort, an dem ich mich befinde, wieder in eine sommerliche Klimazone hineinzubefördern. Aber so lange kann ich nicht warten.

 

Meine punktförmige Existenz wird nicht von allein mit einem warmen Ort zusammenfallen. Ich muss mich bemühen, vom Punkt zur Linie zu werden, denn jede Linie schneidet jede andere Linie früher oder später. Für meine Zwecke ist es sogar recht günstig, dass meine verschiedenen Ziele so statischer Natur sind, denn, wie ich Anne vergeblich beizubringen versucht habe: Wenn man einander aus den Augen verliert, dürfen sich nicht beide gleichzeitig auf die Suche machen. Die rettende Berghütte wird nicht zu mir kommen, aber sie läuft auch nicht weg. Das ist ihre entscheidende Eigenschaft, die ich mir hier zunutze mache.

 

Huxley äußert sich ausführlich darüber, wie viel besser der Mensch doch beraten wäre, still zu Hause zu sitzen. Was dabei an Nützlichem ungetan bleibe, werde mehr als aufgewogen durch die vielen sinnlosen und schädlichen Handlungen, die vermieden würden. Heute bin ich geneigt, ihm Recht zu geben. Eindeutig haben wir hier eine falsche Abzweigung eingeschlagen, aber ob sie nur wenige Stunden zurückliegt, einen halben Tag oder ein halbes Leben, kann ich nicht sagen. Wir hätten nach Berlin weiterfahren können und wären gestern Nachmittag dort angekommen. Wir hätten uns mit einer flüchtigen Ortsbesichtigung begnügen können, ohne auch nur das Auto zu verlassen. Ich hätte Annes Vorschlag Widerstand leisten können. Eine Reihe winziger Entscheidungen hat dazu geführt, dass ich jetzt hier durch den Schnee krieche.

 

In Berlin wird sicher nicht vor Neujahr auffallen, dass wir nicht zurückgekehrt sind; vielleicht auch erst am zweiten oder dritten Januar. Und hier hinterlassen zwei Ortsfremde, die einander im Supermarkt seltsame Markennamen vorlesen, um dann einige Keksriegel und eine Flasche Kofila zu kaufen, mit Sicherheit einen so bleibenden Eindruck wie fallende Schneeflocken. Mit Suchmannschaften mit Taschenlampen, Sprechfunkgeräten und kompetenten Hunden ist jedenfalls bis auf Weiteres nicht zu rechnen. Es ist vermutlich besser so, denn ich kenne die peinlichen Folgen solcher Bergungsaktionen. Statt Mitgefühl wird dem Geretteten ein schlampig formulierter Beitrag in irgendeiner Mitgliederzeitschrift zuteil, in dem von Leichtsinn, mangelnder Vorbereitung und unzureichender Ausrüstung die Rede ist. Wer sich aus eigener Kraft zurück in den Schoß der Zivilisation rettet, dem verzeiht man gern, dass er sich aus freien Stücken in die Situation begeben hat, die eine Rettung erst nötig machte. Den Bericht über seine Strapazen verfasst er selbst. Es steht ihm frei, sich humorvoll, aber doch geläutert zu den eigenen Versäumnissen zu äußern und sein Verhalten in schwieriger Lage im günstigsten Licht darzustellen. Bis dahin kann ich mir eine weniger naheliegende Metapher ohne Schneeflocken zurechtlegen, um einen Sachverhalt zu illustrieren, der mir jetzt wieder entfallen ist. Anne werde ich dabei nicht erwähnen. Man soll in solchen Berichten nicht andere für das eigene Schicksal verantwortlich machen. Nicht einmal dann, wenn sie tatsächlich durch ihre mangelnde Weitsicht das ganze Unheil heraufbeschworen haben. Verirrte Kleinkinder haben bessere Überlebenschancen als Erwachsene, denn es fehlt ihnen an der Phantasie, die nötig wäre, um den Ernst ihrer Lage zu begreifen. Sie machen weder schlechte noch gute Pläne, sie laufen nicht tagelang in die falsche Richtung, und weil sie nicht wissen, dass sie bereits tot sind, bleiben sie am Leben. Aus demselben Grund lassen sie auch erfroren oder ertrunken noch nach Stunden wiederbeleben. Ihr Spatzengehirn bemerkt das Fehlen von Sauerstoff gar nicht erst. Am größten ist die Gefahr dagegen, wenn man sich zwischen dem sechsten und zwölften Lebensjahr verirrt. Man ist alt genug, um einen Plan zu fassen, aber noch zu jung, um einen durchdachten von einem ungenügenden Plan zu unterscheiden. Wenn ich sterbe, nimmt dieses ganze Wissen die Form eines nutzlosen, gefrorenen Eiweißklumpens an. Im Frühjahr irgendeines Jahres kann man meine Leiche unten im Tal aus dem Gletscher schmelzen sehen. Aber ich werde natürlich nicht sterben, und es gibt hier auch gar keinen Gletscher. Nicht zu wissen, wo man sich relativ zu anderen Punkten aufhält, ist keine Todesursache. Verwirrung ist eine Todesursache. Aber ich bin, wenn schon nicht körperlich, so doch geistig orientiert, und ein kleines rotes Dreieck markiert meinen Standort: Sie befinden sich hier.[…]

 

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