Kathrin Passig (1970 - )

 

Sie befinden sich hier (Erzählung, 2006)

 

Wenn man im Winter in eine missliche Lage gerät, weil es beispielsweise

früher dunkel wird als gedacht, Schneetreiben einsetzt oder man den Weg

verloren hat, gibt es zwei Möglichkeiten. Ist damit zu rechnen, dass man in

absehbarer Zeit gefunden und gerettet wird, vergräbt man sich im Schnee und

wartet ab. Kennt man dagegen den Weg zur nächsten Unterkunft und ist ein

Rettungseinsatz vorerst nicht zu erwarten, sollte man in Bewegung bleiben.

Die Frage, was zu tun ist, wenn beides nicht zutrifft, wird in der Literatur

höflich ausgespart. Ich habe mich daher für einen Kompromiss entschieden.

Meine Art der Fortbewegung ähnelt ein wenig der eines Maulwurfs oder,

wie ich mir vorstelle, der eines Menschen, der versucht, die Erde unter sich

zu drehen. Ob ich mich bewege oder ob sich der Untergrund relativ zu mir

bewegt – das Ergebnis ist in beiden Fällen dasselbe: Ich komme ans Ziel.

Letztlich würde sogar die Bewegung der Erde durch das All genügen, den

Ort, an dem ich mich befinde, wieder in eine sommerliche Klimazone

hineinzubefördern. Aber so lange kann ich nicht warten.

 

Meine punktförmige Existenz wird nicht von allein mit einem warmen Ort

zusammenfallen. Ich muss mich bemühen, vom Punkt zur Linie zu werden,

denn jede Linie schneidet jede andere Linie früher oder später. Für meine

Zwecke ist es sogar recht günstig, dass meine verschiedenen Ziele so statischer

Natur sind, denn, wie ich Anne vergeblich beizubringen versucht habe: Wenn

man einander aus den Augen verliert, dürfen sich nicht beide gleichzeitig auf

die Suche machen. Die rettende Berghütte wird nicht zu mir kommen, aber

sie läuft auch nicht weg. Das ist ihre entscheidende Eigenschaft, die ich mir

hier zunutze mache.

 

Huxley äußert sich ausführlich darüber, wie viel besser der Mensch doch

beraten wäre, still zu Hause zu sitzen. Was dabei an Nützlichem ungetan

bleibe, werde mehr als aufgewogen durch die vielen sinnlosen und schädlichen

Handlungen, die vermieden würden. Heute bin ich geneigt, ihm Recht

zu geben. Eindeutig haben wir hier eine falsche Abzweigung eingeschlagen,

aber ob sie nur wenige Stunden zurückliegt, einen halben Tag oder ein halbes

Leben, kann ich nicht sagen. Wir hätten nach Berlin weiterfahren können

und wären gestern Nachmittag dort angekommen. Wir hätten uns mit einer

flüchtigen Ortsbesichtigung begnügen können, ohne auch nur das Auto zu

verlassen. Ich hätte Annes Vorschlag Widerstand leisten können. Eine Reihe

winziger Entscheidungen hat dazu geführt, dass ich jetzt hier durch den

Schnee krieche.

 

In Berlin wird sicher nicht vor Neujahr auffallen, dass wir nicht zurückgekehrt

sind; vielleicht auch erst am zweiten oder dritten Januar. Und hier

hinterlassen zwei Ortsfremde, die einander im Supermarkt seltsame Markennamen

vorlesen, um dann einige Keksriegel und eine Flasche Kofila zu kaufen,

mit Sicherheit einen so bleibenden Eindruck wie fallende Schneeflocken. Mit

 

Suchmannschaften mit Taschenlampen, Sprechfunkgeräten und kompetenten

Hunden ist jedenfalls bis auf Weiteres nicht zu rechnen.

Es ist vermutlich besser so, denn ich kenne die peinlichen Folgen solcher

Bergungsaktionen. Statt Mitgefühl wird dem Geretteten ein schlampig

formulierter Beitrag in irgendeiner Mitgliederzeitschrift zuteil, in dem von

Leichtsinn, mangelnder Vorbereitung und unzureichender Ausrüstung die Rede

ist. Wer sich aus eigener Kraft zurück in den Schoß der Zivilisation rettet,

dem verzeiht man gern, dass er sich aus freien Stücken in die Situation begeben

hat, die eine Rettung erst nötig machte. Den Bericht über seine Strapazen

verfasst er selbst. Es steht ihm frei, sich humorvoll, aber doch geläutert zu

den eigenen Versäumnissen zu äußern und sein Verhalten in schwieriger Lage

im günstigsten Licht darzustellen. Bis dahin kann ich mir eine weniger naheliegende

Metapher ohne Schneeflocken zurechtlegen, um einen Sachverhalt

zu illustrieren, der mir jetzt wieder entfallen ist. Anne werde ich dabei nicht

erwähnen. Man soll in solchen Berichten nicht andere für das eigene Schicksal

verantwortlich machen. Nicht einmal dann, wenn sie tatsächlich durch ihre

mangelnde Weitsicht das ganze Unheil heraufbeschworen haben.

 

Verirrte Kleinkinder haben bessere Überlebenschancen als Erwachsene,

denn es fehlt ihnen an der Phantasie, die nötig wäre, um den Ernst ihrer

Lage zu begreifen. Sie machen weder schlechte noch gute Pläne, sie laufen

nicht tagelang in die falsche Richtung, und weil sie nicht wissen, dass sie

bereits tot sind, bleiben sie am Leben. Aus demselben Grund lassen sie auch

erfroren oder ertrunken noch nach Stunden wiederbeleben. Ihr Spatzengehirn

bemerkt das Fehlen von Sauerstoff gar nicht erst. Am größten ist die Gefahr

dagegen, wenn man sich zwischen dem sechsten und zwölften Lebensjahr

verirrt. Man ist alt genug, um einen Plan zu fassen, aber noch zu jung, um

einen durchdachten von einem ungenügenden Plan zu unterscheiden. Wenn

ich sterbe, nimmt dieses ganze Wissen die Form eines nutzlosen, gefrorenen

Eiweißklumpens an. Im Frühjahr irgendeines Jahres kann man meine Leiche

unten im Tal aus dem Gletscher schmelzen sehen. Aber ich werde natürlich

nicht sterben, und es gibt hier auch gar keinen Gletscher. Nicht zu wissen,

wo man sich relativ zu anderen Punkten aufhält, ist keine Todesursache.

Verwirrung ist eine Todesursache. Aber ich bin, wenn schon nicht körperlich,

so doch geistig orientiert, und ein kleines rotes Dreieck markiert meinen

Standort: Sie befinden sich hier.

 

Unten am Parkplatz hatte unser Weg beschildert und befestigt seinen

Anfang genommen. Vom Wind aufgewirbelte Schneekristalle leuchteten in

Spektralfarben. Der Weg verlor sich schon ein oder zwei Stunden später,

oder vielleicht waren auch wir es, die den Weg verloren. Die Natur hatte ihn

ausgelegt wie eine klebrige Zunge, und wir waren ihr auf den Leim gegangen.

Aber wir dürfen ihr keinen bösen Willen unterstellen. Unser Überleben

könnte der Natur kaum gleichgültiger sein, das wird in solchen Situationen

schmerzlich spürbar. Wie das Desinteresse eines Menschen, von dem man

geliebt werden möchte, muss man ihre Gleichgültigkeit stoisch ertragen. Die

Zeit arbeitet für mich.

 

Verirrte sterben häufig bereits in der ersten Nacht im Freien, obwohl

sie, gemessen an ihrer Ausrüstung und körperlichen Konstitution, in der

Lage sein müssten, mindestens einige Tage zu überleben. Nicht Kälte oder

Erschöpfung werden ihnen zum Verhängnis, sondern Verzweiflung und schlechte

Planung. Aber ich habe in der letzten Nacht bereits unter Beweis gestellt,

dass ich nicht aus Enttäuschung über das mangelnde Mitgefühl der Natur

zu versterben gedenke. Es war eine lange Wartepause im Windschatten eines

Felsblocks, an die ich mich jetzt kaum noch erinnere, ähnlich, wie man sich

an einen überstandenen Schmerz nur abstrakt und undeutlich erinnert. Alles

eine Frage der Selbstbeherrschung, der richtigen Einstellung.

Natürlich ist es wichtig, den Verstand, der wie ein Hund lieber hierhin

und dorthin streunen möchte, an die kurze Leine zu nehmen und nicht zuzulassen,

dass er Schemen nachjagt. Abenteuerbücher für leichtgläubige Leser

berichten immer wieder von schattenhaften Begleitern, mit denen die durch

Kälte oder Einsamkeit verwirrten Wanderer ihren Proviant zu teilen versuchen.

Tatsächlich habe ich genau zwei Erwähnungen dieses Phänomens in

zuverlässigen Quellen gefunden, nämlich in einer berühmten Bergsteigerbiografie,

an deren Titel ich mich gerade nicht erinnern kann, und in einem

Bericht Amundsens über seine Überquerung der Gletscher Südgeorgiens. Ich

bin mir allerdings nicht sicher, ob da nicht irgendeine Verwechslung mit Nansen

vorliegt. Abgesehen von diesen kleineren Gedächtnisausfällen bin ich bei

klarem Verstand und stelle statt der Anwesenheit eines Dritten vielmehr die

Abwesenheit einer Zweiten fest. Anne ist nicht mehr da. Ich komme sehr gut

ohne sie zurecht, besser sogar. Ich hätte sie gar nicht erst mitnehmen sollen,

das wäre am besten gewesen. Ohne Anne könnte ich längst in Berlin sein,

an einem gut beheizten und von Menschen für Menschen gestalteten Ort.

Meine Vorfahren haben viele tausend Jahre daran gearbeitet, nicht mehr unbehaust

in Kälte, Schnee und Nebel herumkriechen zu müssen – es ist mein

gutes Recht, von ihren Leistungen zu profitieren. Aber ich hätte es wissen

müssen, denn Anne hat in ihrem ganzen Leben keine vernünftige Karte gekauft.

Situationen, in denen ein Maßstab von 1:500.000 nicht mehr ausreicht,

kommen in ihrem beschränkten Weltbild nicht vor.

 

Immerhin profitiere ich von den Leistungen anderer insofern, als ich eine

hochprofessionelle Winterjacke trage, ein wahres Wunderwerk an Wind- und

Wasserdichtigkeit. Ich erinnere mich zwar nicht, was mich dazu bewogen hat,

dieses für Berliner Winterverhältnisse völlig überqualifizierte Kleidungsstück

zu erwerben, aber ich bin zufrieden mit meiner längst vergessenen Entscheidung.

 

Wer eine solche Jacke hat, der braucht kein Haus. Wen kümmern ihre

hässlichen rostbraunen Flecken und ihre undichten Nähte? Es ist nämlich

tatsächlich so, ich habe diese Frage mittlerweile geklärt, dass manche Schneeflocken

die Form kleiner weißer Federn haben, weil sie kleine weiße Federn

sind.

 

Diese Feststellung hat mich einige Zeit gekostet, denn meine ganze Umgebung

ist von irritierender Einfarbigkeit. Aber es ist nicht das strahlende

Weiß der Landschaft, die gestern so anziehend wirkte. Es ist ein fahler, breiiger

Ton, in dem jeder Kontrast versickert. Irgendwo unter mir muss Svat´y

Petr oder Sankt Peter liegen, aber bevor ich mir Gedanken über Feinheiten

der Namensgebung mache, muss ich diesen namenlosen Ort verlassen. Es

ist dem Menschen nicht zuträglich, sich an Orten ohne Namen aufzuhalten.

Deshalb hatten auch Entdecker nichts Eiligeres zu tun, als jede neue Landschaftsformation

nach ihrer Frau oder dem deutschen Kaiser zu benennen.

 

Eskimos haben, wie einfallslose Mitmenschen an dieser Stelle gern in die

Konversation einwerfen, unzählige Wörter für Schnee. Vermutlich soll damit

auf die abgestumpfte Naturwahrnehmung des Stadtbewohners hingewiesen

werden. Ich habe keine Geduld mit den Nachbetern dieser banalen Behauptung.

Die Eskimosprachen sind polysynthetisch, was bedeutet, dass selbst

selten gebrauchte Wendungen wie ”Schnee, der auf ein rotes T-Shirt fällt“

in einem einzigen Wort zusammengefasst werden. Es ist so ermüdend, das

immer wieder erklären zu müssen.

 

Vor meinen Augen entsteht gerade eine neue Art Schnee, nämlich Schneedurch-

den-sich-ein-magerer-Hase-arbeitet. Ich hoffe für den Hasen, dass er

ein bestimmtes Ziel vor Augen hat, auch wenn ich mir kaum vorstellen kann,

dass sich ein solcher Energieaufwand für ein verdorrtes Stück Flechte lohnt.

ähnlich schwer nachvollziehbar mag wiederum dem Hasen erscheinen, warum

ich mich hier durch den Schnee wühle. Ich sage ”Hase“, dabei ist durchaus denkbar,

dass es sich um ein Kaninchen handelt. Kaum jemand weiß, dass Hasen und

Kaninchen nicht schwer voneinander zu unterscheiden sind; sie

sind nicht einmal miteinander verwandt. Kaninchen sind Höhlenbewohner

und gehören zu den Nagetieren, Hasen zu den Hasenartigen. Aber heute

kann auch ich nicht sagen, um was für ein Tier es sich handelte, denn es war

so weiß wie seine Umgebung, im Grunde also unsichtbar.

 

Mit dem Verschwinden des weißen Hasenkaninchens überkommt mich ein

merkwürdiges Gefühl, das ich aus meiner Kindheit kenne. Es ähnelt ein wenig

dem Gefühl, eine schwere Metallkugel in der Hand zu halten, nur erstreckt

es sich auf den ganzen Körper, vor allem auf der Zunge und dem Gaumen

breitet sich die nicht unangenehme Empfindung aus. Es muss sich doch um

ein Kaninchen gehandelt haben, denn das lateinische cuniculus bezeichnet

nicht nur das Tier, sondern auch dessen Höhle, und auf diese Höhle weist

das Auftauchen des Kaninchens hin, das ist mir nicht entgangen. Außerdem

waren die Ohren viel zu kurz für einen Hasen. Wenn alle Richtungen gleich

aussehen, ist eine so gut wie die andere, daher würde ich dem weißen Kaninchen

bereitwillig folgen, wenn es nicht ohnehin in die Richtung gelaufen

wäre, die mein Plan vorsieht.

 

Ich glaube übrigens nicht, dass es im Riesengebirge überhaupt Kaninchen

gibt, die sich im Winter weiß färben. Aber das Tier machte einen ausgesprochen

realen Eindruck, und ich würde hoffentlich ein besseres, weniger

ungelenkes und mageres Kaninchen herbeihalluzinieren, wenn ich mir davon

Aussicht auf Rettung verspräche. Aus der Tatsache, dass sich abgesehen von

dem Tier in den letzten Stunden keine plausiblen Kandidaten für Halluzinationen

eingestellt haben, schließe ich, dass in meinem Körper alles nach Plan

läuft. Wir kommen schon zurecht, auch ohne Blendwerk. Hauptsache, man

bleibt in Bewegung.

 

Deshalb erzeuge ich geduldig aus Schnee-der-vor-mir-liegt Schnee-derhinter-

mir-liegt. Es ist alles eine Frage der Zeit und der Hingabe. Wenn ich

genug Zeit hätte, könnte ich allen Schnee der Welt in Schnee-der-hinter-mirliegt

verwandeln, ihn hinter mir wieder glattstreichen und jede Spur meiner

Durchreise tilgen. Aber ich bin etwas in Eile, und meine Hände, willige Helfer

bis vor wenigen Stunden, sträuben sich jetzt gegen mich, als hätte ich ihre

Loyalität überstrapaziert. Auch zu den Füßen ist der Kontakt abgerissen,

aber bei meiner Fortbewegungsart habe ich ohnehin keine Verwendung für

sie. Lähmung ist hinderlich für das Bein, so steht es bei Epiktet oder Joe

Simpson, aber nicht für mich. Die Beine werden selbst zusehen müssen, wie

sie zurechtkommen, ich kann mich heute nicht um alles kümmern.

Man kann uns kaum vorwerfen, dass wir unvorbereitet waren. Anne besaß

eine Seite aus einem kostenlosen Tourismusprospekt, auf der immerhin

der Anfang dessen, was wir für unseren Weg hielten, eingezeichnet war. Und

ich besitze immer noch ein Digitalfoto der im Ort ausgehängten Winterwanderkarte,

an dem ich mich orientieren könnte, wenn meine Kamera nicht

die Angewohnheit hätte, bei niedrigen Temperaturen die Arbeit einzustellen.

 

Natürlich müsste ich außerdem in der Lage sein, den Reißverschluss meiner

Tasche zu öffnen und die Kamera zu bedienen, und schließlich scheint auch

der Begriff der Orientierung eine gewisse Vorstellung von dem Punkt, an dem

man sich befindet, zu beinhalten. Es ist, wie Anne zu sagen pflegt:

”Wenn wir jetzt Schinken hätten, könnten wir Rührei mit Schinken machen, wenn

wir Eier hätten.“ Davon abgesehen möchte ich ungern die Handschuhe

ausziehen, da der Vorgang des Handschuhausziehens zwar ein einfacher, seine Umkehrung jedoch

auch dann nicht einfach ist, wenn die Hände kooperieren. Merkwürdig,

dass es so viele nicht reversible Prozesse auf der Welt gibt. Bei genauerer

Betrachtung stellt sich heraus, dass Umkehrbarkeit generell die Ausnahme

darstellt und nicht die Regel, wie man es in einem vernünftig gestalteten

Universum erwarten möchte. Die Tatsache, dass meine Finger bereits jetzt

nicht mehr in der Lage sind, einen einfachen Reißverschluss zu bedienen,

gibt mir jedenfalls zu denken. Ich weiß über Erfrierungen Bescheid, und es

ist ohne weiteres möglich, dass sich mir diese Fähigkeit nicht nur heute,

sondern für immer entzieht. Verschließt, bin ich versucht zu sagen. Ich werde

mir vorsorglich eine Antwort auf die Frage nach fehlenden Fingern oder

Fingergliedern zurechtlegen, eine Antwort, die nichts mit Annes habitueller

Verkennung von Gefahrensituationen zu tun hat. Hätte ich in

meiner unzugänglichen Tasche statt einer Digitalkamera einen Handwärmer, könnte

man später immerhin Catch-22-Probleme im Alltag erörtern. Ich glaube, ich

werde einen Handwärmer hinzuerfinden.

 

Mein eigener Großvater ist nach Kriegsende wochenlang nachts durch

Tschechien gewandert, um in amerikanische Kriegsgefangenschaft zu gelangen.

Ich bezweifle, dass ihm besseres Kartenmaterial zur Verfügung stand

als unsere Gratis-Wanderkarte, zudem war es ja dunkel. Er muss die Gene,

die ihn dazu befähigten, an mich weitergegeben haben. Nein, bei näherer

Betrachtung kann ich mich auf diese Überlegung nicht verlassen, denn mein

Vater war zu diesem Zeitpunkt bereits gezeugt. Oder lassen sich daraus überhaupt

keine Schlussfolgerungen ableiten? Die Frage wird später zu klären

sein; vorerst muss ich diese Wanderung zu Ende bringen, ohne auf die Gene

meines Großvaters zurückzugreifen.

 

Natürlich bin ich letztlich nicht auf das Foto der Wanderkarte angewiesen,

denn auch mein Gehirn hat ein Abbild jener Tafel in ihrem hölzernen

Triptychon gespeichert. Und im Unterschied zur Kamera funktioniert es auch

bei Kälte ausgezeichnet. So weiß ich, dass die Berghütten mit ihren rührend

altmodischen Namen rund um uns herum so zahlreich stehen, dass sie selbst

ohne Karte und im Schneetreiben kaum zu verfehlen sind: Erlebachbaude,

Weißwassergrundbaude, Geiergucke, Wiesenbaude. Irgendwo zur Rechten des

Weges liegt das schöne, aber auch ein wenig beunruhigende Modr´y D°ul. Da

ich kein Tschechisch verstehe, kann es sich dabei statt um einen Ort ebensogut

um einen Hinweis an den Wanderer handeln: Hic sunt leones. Verlassen

wir uns also besser nicht auf Modr´y D°ul und halten uns an die Hütten, die

man zuvorkommenderweise oben auf Bergen zu erbauen pflegt, wo sie leicht

zu finden sind. Ich weiß das zu schätzen, denn in dem grauweißen Nichts, das

mich umgibt, sind die Himmelsrichtungen Oben und Unten alles, woran ich

mich halten kann.

 

Und das sind bereits zwei Richtungen mehr als in der letzten Nacht, in

der der Schnee waagerecht und in großer Eile an uns vorbeifegte.

Eng aneinandergedrängt an unserem Felsblock, beobachteten wir den Schnee aus

zusammengekniffenen Augen, wie man an einem Bahnübergang einen Güterzug

aus nächster Nähe vorbeirasen sieht. Alle Waggons waren mit Schnee gefüllt,

und der Zug nahm und nahm kein Ende. Die Schranke wollte sich nicht mehr

heben. Wer hätte dieser friedlichen Landschaft solche Exzesse zugetraut?

Ein Tropfen Blut löst sich von meiner Stirn und versinkt einige Zentimeter

tief im Schnee. Skorbut, die Geißel der Polarforschung, führt bekanntlich

zum Wiederaufbrechen alter Wunden, aber ich kann in dieser Hinsicht ganz

unbesorgt sein, denn es handelt sich um einen so frischen wie harmlosen Kratzer.

Ich beobachte den Vorgang aufmerksam, seiner ungewohnten Farbigkeit

wegen. Der erstarrte Tropfen hat die Form von Annes T-Shirt angenommen,

oder war es Annes Anorak? Hat sie überhaupt ein rotes Kleidungsstück getragen?

Entfernungen sind bei diesen Lichtverhältnissen schwer einzuschätzen,

und wenn ich den Tropfen auf eine bestimmte Weise fixiere, kann ich in der

Ferne die vollständige Anne erkennen.

 

Nachdem ich sie so eine Weile eingehend betrachtet habe, muss ich mir

der intellektuellen Redlichkeit halber die Frage stellen, ob ich womöglich

doch ganz ohne Annes Schuld, überhaupt ohne Anne hier gestrandet bin.

Zugegeben, die Überlegung drängt sich schon seit geraumer Zeit auf. Hätte

Anne sich nicht durch irgendeine eigene Regung bemerkbar machen müssen,

wenn sie eine von der meinen unabhängige Existenz führte? Ihr Name ähnelt

verdächtig dem meiner Schwester Annette oder wirkt doch jedenfalls einfallslos,

ein beliebiger Frauenname mit A. Fragt man Menschen nach einer

Farbe, antworten sie ”Rot“, bittet man sie, ein Werkzeug zu nennen, sagen

sie ”Stein“. Nein, nicht Stein, ich glaube, man sagt ”Hammer“. Auf die

Frage nach einem Frauennamen würden neunzig Prozent wahrscheinlich mit

”Anne“ antworten. Das alles beweist natürlich noch gar nichts.

 

Aber es war nicht Anne, die ihre Handschuhe im Auto gelassen hat. Ich

war es. Ich wollte die Hände in die Hosentaschen stecken, ein, zwei Stunden

durch den Schnee zu einer tschechischen Hütte schlendern und dort ein

Glas Glühwein einnehmen. Für den Rückweg würde es hier in dieser gut erschlossenen

Gegend vielleicht sogar einen Sessellift geben. So hatte ich mir

den Nachmittag vorgestellt, und wer selbst noch nie so gedacht hat, werfe

den ersten Stein. Im Land des Glühweins und der Sessellifte sind alle diese

Überlegungen unschädlich und zulässig. Aber es berührt an vielen Stellen

ein Land, in dem andere Regeln gelten. Im Laufe dieser Wanderung habe ich

dessen Grenze überquert und finde jetzt den Weg zurück nicht mehr. Das

ist weniger problematisch, als es klingt, denn ich will gar nicht zurück. Mein

Plan sieht vielmehr einen kühnen Vorstoß nach vorne und oben vor, und die

Abschaffung Annes ist nur ein Teil dieses Plans. Mein Gedankenkreislauf beschränkt

sich immer mehr auf das Nötigste, so wie der Blutkreislauf nur noch

zentral gelegene Organe versorgt. Ich kann mir keine unnützen Gedanken

leisten, die meine Energievorräte aufzehren. Ich muss mich konzentrieren, wenn

die holzwurmgleiche Spur, die ich durch die Landschaft ziehe, heute noch ein

Ende finden soll.

 

Mir ist, als hätte ich meine Lage vorhin mit dem Begriff ”gestrandet“ beschrieben,

dessen sommerliche Konnotationen hier ganz unangemessen sind.

Man erkennt daran die Vernunft früherer Generationen, die hin und wieder

Schiffbruch erlitten, aber nicht ohne Not Berge zu besteigen pflegten,

schon gar nicht im Winter. Dabei sind wir nicht einmal über die Baumgrenze

hinausgelangt. Wenn sich die Lichtverhältnisse bessern, erkenne ich kleine,

bucklige Kiefern. Vielleicht sind es aber auch dunkle Flecken. An dieser Stelle

könnte ich erwähnen, dass die Birke der einzige Baum war, den Anne erkennen

konnte, aber ich weiß es jetzt besser. Meine schlecht verwischte Spur

im Schnee ist die Spur eines einzelnen Menschen. Mag sein, dass sich meine

Erinnerungen vermischen, sicher habe ich irgendwann einmal mit Anne im

Winter einen Berg bestiegen, aber das muss länger zurückliegen als nur eine

Nacht und einen Nachmittag. Es passt zu den übrigen sinnlosen Bildern.

Was soll ich in meiner Lage mit der Außenansicht einer bayrischen Apotheke

anfangen, in der ich vor fünfzehn Jahren eine Zahnbürste erworben habe?

Was will die junge, schwarzweiße Katze, der mein Grundschullehrer vor den

Augen der Klasse einen Tritt versetzt? Birgt die Erinnerung an ein unleserlich

beschildertes Stück Autobahn irgendeinen latenten Sinn, den ich nur

nicht mehr entschlüsseln kann? Vielleicht zieht längst mein Leben in einer

geordneten und cineastisch wertvollen Darstellung an mir vorbei, aber ich

bin intellektuell nicht mehr in der Lage, dem Film zu folgen.

 

Es hätte schlimmer kommen können. Immerhin habe ich nicht versucht,

meinen Proviant mit der nicht vorhandenen Anne zu teilen. Das wäre umso

schwieriger gewesen, als die vier tschechischen Keksriegel in ihren Jackentaschen

steckten, nicht in meinen. Nein, hier geraten mir zwei Gedanken durcheinander,

was unter diesen Umständen vermutlich normal ist und niemanden

weiter beunruhigen muss. Ich muss nur die richtigen von den falschen Gedanken

trennen wie die Schneeflocken von den Federn. Annes Jackentaschen

sind jetzt meine Jackentaschen. Sie mögen unzugänglich sein – ich werde dem

Hersteller später meine Überlegungen zu Reißverschlüssen mitteilen müssen

– aber es sind meine Jackentaschen und meine Keksriegel. Ich muss sie mit

niemandem teilen.

 

Ich werde versuchen, mein Gesicht vorübergehend in den Ausschnitt meiner

Jacke zu stecken wie ein Gürteltier oder ein Igel. Zum einen ist der Kopf

für die Hälfte des Wärmeverlustes verantwortlich, zum anderen hoffe ich so

meine Gedankengänge wieder in Ordnung zu bringen. Gut wäre es, Winterschlaf

zu halten wie ein Igel, meinen Herzschlag und meine Atmung so weit

zu verlangsamen, dass ich erst im Frühjahr wieder aufwache, abgemagert,

aber intakt. Nansen und Johansen haben es in ihrer Erdhöhle auf Franz-

Josef-Land nicht anders gehalten.

 

Meine Innenwelt ist nur unwesentlich wärmer als meine Umgebung. Sie

ist schwarz statt weiß, und unter meiner Jacke trage ich eine weitere Jacke.

Wahrscheinlich kommt darunter eine dritte Jacke, und so weiter. Ich mache

mich rund und halte die Angriffsfläche für die Kälte so klein wie möglich,

körperlich wie geistig. Allerdings kondensiert in dieser Stellung die Feuchtigkeit

meiner Atemluft im Inneren meines Gehäuses. Das Weiße darf sich nicht

mit dem Schwarzen vermischen, darauf muss ich achten.

 

Außerdem habe ich keine Zeit für Introspektion, ich muss mich mit der

Außenwelt und ihren weißen Tieren arrangieren. Es sind die Oberflächen,

die mich angehen, unberührte, abweisende Oberflächen. Es gibt Outdoorjacken

aus Stoffen, von denen selbst die widerwärtigsten Flüssigkeiten spurlos

abperlen, ich habe das mit eigenen Augen gesehen. Es gibt Tiere, die den

antarktischen Winter barfuß auf dem Eis verbringen, es gibt argentinische

Rugbyspieler, die nach einem Flugzeugabsturz siebzig Tage in den Anden

überlebt haben. Das alles ist nicht so schwierig, wie es manchmal scheint. Ich

habe schon im Laufe der Nacht aufgehört zu zittern.

 

Vor meinen Augen steigt ein Nachbild der fallenden Schneeflocken nach

oben. Schnee-Antimaterie hebt alles Geschehene auf. Das Auftauchen schwarzer

Tiere vor diesem Hintergrund würde meinen Hasen endgültig disqualifizieren,

es sei denn, er wäre wie das Schaf des Mathematikers nur auf einer

Seite weiß gewesen. Aber ich muss dieses fragile Gleichgewicht stören, den

Kopf aus meinem Daunengefieder ziehen und mich wieder an die Arbeit machen.

Gleich, wenn ich soweit bin. In wenigen Minuten.

 

Hinter mir könnte man im Windschatten des Felsblocks immer noch Annes

nackten Arm und einen Teil ihres roten T-Shirts erkennen. Aber das

ist eine rein hypothetische Überlegung, denn ich werde mich auf keinen Fall

umdrehen. Anne ist zum Punkt geworden, ich bin eine Linie. Ich komme

voran.