Ulrich
Plenzdorf (1934 - )
Die
neuen Leiden des jungen W. (Bühnenstück
1969; Uraufführung 1972; Roman, 1974)
Notiz in der "Berliner Zeitung" vom 26.
Dezember:
Am Abend des 24. Dezember wurde der
Jugendliche Edgar W. in einer Wohnlaube der Kolonie Paradies II im
Stadtbezirk Lichtenberg schwer verletzt aufgefunden. Wie die
Ermittlungen der Volkspolizei ergaben, war Edgar W., der sich seit
längerer Zeit unangemeldet in der auf Abriss stehenden Laube
aufhielt, bei Basteleien unsachgemäß mit elektrischem
Strom umgegangen.
Anzeige in der "Berliner Zeitung" vom
30. Dezember:
das Leben unseres
jungen Kollegen
Edgar Wibeau
Er hatte noch
viel vor!
VEB WIK Berlin
AGL Leiter
FDJ
[...]Ich war fast gar nicht sauer!
Der Kerl in dem Buch, dieser Werther,
wie er hieß, macht am Schluss Selbstmord. Gibt einfach den
Löffel ab. Schießt sich ein Loch in seine olle Birne, weil
er die Frau nicht kriegen kann, die er haben will, und tut sich
ungeheuer leid dabei. Wenn er nicht völlig verblödet war,
musste er doch sehen, dass sie nur darauf wartete, dass er was
machte, diese Charlotte. Ich meine, wenn ich mit einer Frau
allein im Zimmer bin und wenn ich weiß, vor einer halben Stunde
oder so kommt keiner da rein, Leute, dann versuch ich doch
alles. Kann sein, ich handle mir ein paar Schellen ein, na
und? Immer noch hesser als eine verpasste Gelegenheit. Außerdem
gibt es höchstens in zwei von zehn Fällen Schellen. Das ist
Tatsache. Und dieser Werther war ...zigmal mit ihr allein. Schon in
diesem Park. Und was macht er? Er sieht ruhig zu, wie sie heiratet.
Und dann murkst er sich ab. Dem war nicht zu helfen.
Wirklich leid tat mir bloß die Frau.
Jetzt saß sie mit ihrem Mann da, diesem Kissenpuper. Wenigstens
daran hätte Werther denken müssen. Und dann: Nehmen wir mal
an, an die Frau wäre wirklich kein Rankommen gewesen. Das war
noch lange kein Grund, sich zu durchlöchern. Er hatte doch ein
Pferd! Da wär ich doch wie nichts in die Wälder. Davon
gab's doch damals noch genug.
Und Kumpels hätte er eins zu tausend
massenweise gefunden. Zum Beispiel Thomas Müntzer oder wen. Das
war nichts Reelles. Reiner Mist. Außerdem dieser Stil. Das
wimmelte nur so von Herz und Seele und Glück und Tränen.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass welche so geredet haben sollen,
auch nicht vor drei Jahrhunderten. Der ganze Apparat bestand aus
lauter Briefen, von diesem unmöglichen Werther an seinen Kumpel
zu Hause. Das sollte wahrscheinlich ungeheuer originell wirken oder
unausgedacht. Der das geschrieben hat, soll sich mal meinen Salinger
durchlesen. Das ist echt, Leute! [...]
Schätzungsweise war es am besten so.
Ich hätte diesen Reinfall sowieso nicht überlebt. Ich war
jedenfalls fast so weit, dass ich Old Werther verstand, wenn er nicht
mehr weiterkonnte. Ich meine, ich hätte nie im Leben freiwillig
den Löffel abgegehen. Mich an den nächsten Haken
gehängt oder was. Das nie. Aber ich wär doch nie
wirklich nach Mittenberg zurückgegangen. Ich weiß
nicht, ob das einer versteht. Das war vielleicht mein
größter Fehler: Ich war zeitlebens schlecht im Nehmen. Ich
konnte einfach nichts einstecken. Ich Idiot wollte immer der Sieger
sein.[
]