Marcel Reich-Ranicki (1920 -  )

 

Mein Leben (Autobiographie, 1999)

 

Aus dem Kapitel "Pulvermühle und Rechenmaschine"

 

Am 25. August 1964 wurde ich im Schwurgerichtssaal des Juztizpalastes in München als Zeuge im Strafverfahren gegen den ehemaligen SS-Obergruppenführer Karl Wolff vernommen. […]Ich sollte über die Verhältnisse im Warschauer Getto aussagen. War es möglich, mehrfach durch die Strassen des "Jüdischen Wohnbezirks" zu fahren, ohne zu merken, was sich dort täglich abspielte?

Berichte über meine Zeugenaussage waren in verschiedenen Zeitungen zu lesen. Das hatte zur Folge, daß ich von einer Mitarbeiterin des Norddeutschen Rundfunks um ein Interview über das Getto gebeten wurde. Wir trafen uns in Hamburg im Café "Funkeck" schräg gegenüber dem Rundfunkgebäude. Die Journalistin, vermutlich noch keine dreißig Jahre alt, war keineswegs besonders schön, aber nicht ohne Reiz. Vielleicht rührte dieser Reiz von ihrem offenkündigen Ernst, der mit ihrer Jugendlichkeit zu kontrastieren schien. Sie wollte ein Dreißig-Minuten-Gespräch aufnehmen. Ihre Fragen waren exakt und intelligent, sie kreisten um ein zentrales Problem: Wie konnte das geschehen? Kein einziges Mal haben wir die Aufnahme unterbrochen. Als das Gespräch beendet war, sah ich zu meiner Verblüffung, daß wir beinahe fünfzig Minuten geredet hatten. Wozu brauchen Sie soviel? Sie antwortete etwas verlegen: Sie habe zum Teil aus privatem Interesse gefragt. Ich möge ihr den Wissendurst nicht verübeln. Ich wollte etwas über sie erfahren. Aber sie hatte es jetzt sehr eilig. Ich schaute sie an und sah, daß sie Tränen in den Augen hatte. Ich fragte noch rasch: "Entschuldigen Sie, habe ich Ihren Namen richtig verstanden - Meienberg?" - "Nein, Meinhof, Ulrike Meinhof."

Al ich 1968 hörte, daß die inzwischen bekannte Journalistin Ulrike Meinhof in die Illegalität gegangen war und zusammen mit Andreas Baader eine terroristische Gruppe gegründet hatte, […] - da mußte ich immer wieder an das Gespräch im Café "Funkeck" denken. Warum hat sich Ulrike Meinhof, deren Zukunft ich nicht ahnen konnte, so tief meinem Gedächtnis eingeprägt? Könnte dies damit zu tun haben, daß sie die erste Person in der Bundesrepublik war, die aufrichtig und ernsthaft wünschte, über meine Erlebnisse im Warschauer Getto informiert zu werden? Und wäre es denkbar, daß es zwischen ihrem brennenden Interesse für die deutsche Vergangenheit und dem Weg, der sie zum Terror und zum Verbrechen geführt hat, einen Zusammenhang gibt?[…]

 

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