Brigitte Reimann (1933 - 1973)
Die geliebte, die verfluchte Hoffnung
(Sammlung, aus Briefen und Tagebüchern, posthum
erschienen 1982)
3.8.59
abends
Ich muss dir(1) unbedingt heute Abend noch ein paar
Zeilen schreiben, weil ich dich morgen nicht sehen darf. Ich komme um vor
Sehnsucht nach dir, und in jeder Minute des Tages sind meine Gedanken bei dir
und nur bei dir. Ich bin unglücklich und erschüttert, mein Liebster - nicht,
weil du das getan hast, sondern weil du es ohne mich getan hast und weil du zu
glauben scheinst, du dürftest mich nicht mit dir, mit deinen Sorgen und deiner
Verzweiflung belasten. Als wären es nicht auch meine Sorgen und meine Verzweiflung!
Sind wir nicht immer ein Ganzes gewesen, in gleicher Weise beteiligt an jedem
Glück und jedem Unglück, das wir hatten? Nun hat sich ein Teil gelöst und will
sich aufgeben - und glaubt bei alledem auch noch, der andere Teil könne allein
für sich lebensfähig bleiben... du weißt, du solltest wissen, dass du mich zum
Tode verurteilst, wenn du stirbst.
19.9.69
Christa(2) konnte ich die ganze Geschichte mit Jon erzählen
mit allem, was dazu gehört. Sie bringt es fertig, auf eine Art zuzuhören und
Zwischenfragen zu stellen, dass man kaum in die Lage kommt, in Tränen
auszubrechen. Sie hat mich bestärkt in dem Gedanken, dass die Ehe sowieso nicht
wieder zu retten gewesen wäre. Ich sei so ein Typ, der den anderen mit Haut und
Haaren haben will, haben muss - eine Art Leidenschaft, die heute leider aus der
Mode kommt. Merkwürdig, dass die gelassene und scheinbar kühle Christa ein so
genaues Mitempfinden für die heftigen Gefühle anderer hat, für eine Liebe zum
Beispiel, die Jon unheimlich und bedrohlich nennt. Sie meint auch - wie die wenigen
anderen, die von der Affäre wissen oder etwas ahnen -, dass dies alles, einmal
überwunden, für meine Arbeit von Gewinn sein wird. Aber glücklich werde ich nie
sein - was man so unter "glücklich" versteht. Ich glaub's schon
selbst. Gestern Abend - bis tief in die Nacht - war ich mit Scharioth bei
Sakowski, um über den Film zu beraten, und später fingen sie an, über mich zu
reden, in meiner Gegenwart. Das war nun wirklich ein bisschen unheimlich. Zwei
Männer, die einen analysieren (und sie kennen mich beide ganz gut); sie sagten,
ich sei eine fabelhafte Schriftstellerin und vielleicht, wahrscheinlich würde
ich mal sehr gute Bücher schreiben, aber glücklich würde ich nie sein, schon gar
nicht mit einem Mann oder durch ihn, und das sei gut so: genau diese Sorte
Einsamkeit und Bitterkeit, die ich jetzt erfahre, würde meiner Arbeit zugute
kommen. Was für ein Beruf! Aus dem ganzen Jammer macht man ein paar Seiten
anständigen Textes. Wir haben nämlich die ganze Filmkonzeption umgeschmissen
und sind mit Helmuts Hilfe (der hat so ein Gespür für das, was einer kann oder
nicht zu leisten vermag) auf die Idee gekommen, dass die "Klammer"
für den Film der Brief einer Frau sein soll, an ihren Geliebten, der weit weg
ist, vielleicht nie zurückkommt …
Das ist doch verrückt, da sitzt man, das Herz in
Fetzen, und arbeitet mit daran, aus seinem Unglück eine Filmfabel zu machen.
Aber vielleicht ist es nicht verrückt, vielleicht fängt gerade da die
Schriftstellerei an: gewissermaßen neben dieser Frau B. R. zu sitzen und zu
schreiben und noch zu lachen, wenn man sieht, wie ihre Tränen auf die
Schreibmaschine tropfen. Und so ist es gut und richtig, und zum Teufel mit
allem anderen.
(1) Ihr Mann hatte Selbstmord versucht.
(2) Christa Wolf