Günther Rücker (1924 - )

Herr von Oe. (1984)

Herr von Oe. lebte mit gepflegten Manieren, als ein reich ausgestatteter Mensch. Lautes und Vulgäres hat nie jemand bei ihm wahrgenommen. Seine auffallendste Eigenschaft war eine leise, angenehme und noch die geringste Unternehmung durchdringende Sinnlichkeit. Sie war nicht lediglich ein Teilchen seines Wesens, sondern das Element, aus dem er existierte.

Um so erstaunter muß der Leser sein, wenn er erfährt, daß dieser feinsinnige Mensch an einem der letzten Sommertage des Jahres neunzehnhundertfünfundvierzig in einer international renommierten Strafvollzugsanstalt, grüngesichtig und gelüpften Beinkleids, auf dem Rande eines eisernen Eimers sitzend, die gräßlichsten Verwünschungen gegen sich und sein Leben schrie. "Wenn das alles war, dann war es ein Dreck!" schrie er, und er schrie es, die Adern am dünn gewordenen Hals blau aufblähend, ein zweites und drittes und ein viertes und fünftes Mal, und er schrie es noch oft, denn Herr von Oe. wähnte sich an diesem Tag am Ende seines Lebens angekommen.

 

Herr von Oe. war schwedischen Adels deutscher Herkunft, estnischer Nation und, weil seine Geburt in das letzte Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts fiel, Untertan des Zaren aller Reußen. Da seine Eltern zu den reichsten Gutsbesitzern des Landes gehörten, diente er später in Petersburg bei den Preobrashenskern, einem der vornehmsten Regimenter der Krone und nur den Söhnen wohlhabenden Adels zugänglich. Die Eltern verständigten sich mit dem Kind in deutsch, der Hauslehrer brachte ihm das Petersburger Russisch bei, mit der Erzieherin verkehrte er französisch. So kam es, daß Herr von Oe. Russisch mit deutschem und Französisch mit russischem Akzent sprach, und nur das Estnische gelang ihm ohne Beimengung anderer Klänge, als sei es seine wahre Muttersprache. Eltern und Verwandte erklärten es sich damit, daß die ersten Laute, die er auf dieser Erde hörte, Worte und Lieder in der melodischen und schönen Sprache seiner Amme waren, einer wohlgebauten und gesunden Estin. Diese aber fühlte vom ersten Tage seines Lebens an etwas wie Furcht vor diesem Kind. Als sie nämlich den kleinen Herr von Oe. zum erstenmal an die Brust legte und die Lippen des Kindes ihren Körper berührten, rann ein Schauer von den Schultern über ihre Brüste und von da über ihren ganzen Leib, daß sie erschreckt den Atem anhielt, die Augen schloß und das Kreuzeszeichen schlug.[…]

 

Amme - wet nurse

 


 

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