Bernhard Schlink (1944 -   )

 

Der Vorleser (Roman, 1995)

 

[...]

"Lies es mir vor!"

"Lies selbst, ich bring's dir mit.

"Du hast so eine schöne Stimme, Jungchen, ich mag dir lieber zuhören als selbst lesen."

"Ach, ich weiß nicht."

Aber als ich am nächsten Tag kam und sie küssen wollte, entzog sie sich. "Zuerst mußt du mir vorlesen."

Sie meinte es ernst. Ich mußte ihr eine halbe Stunde lang Emilia Galotti vorlesen, ehe sie mich unter die Dusche und ins Bett nahm. Jetzt war auch ich über das Duschen froh. [...]Vorlesen, duschen, lieben und noch ein bißchen beieinanderliegen - das wurde das Ritual unserer Treffen.

[...]

Der Vorsitzende ließ sich von Hanna einsilbig bestätigen, daß sie bis Frühjahr 1944 in Auschwitz und bis Winter 1944/1945 in einem kleinen Lager bei Krakau eingesetzt war, daß sie mit den Gefangenen nach Westen aufgebrochen und dort auch angekommen war, daß sie bei Kriegsende in Kassel gewesen war und seitdem hier und dort gelebt hatte.

[...]

Vielleicht würde ich den Vorsitzenden nicht überzeugen. Aber ich würde ihn zum Nachdenken und Nachforschen bringen. Am Ende würde sich erweisen, daß ich recht hatte, und Hanna würde zwar bestraft, aber geringer bestraft werden. Sie würde zwar ins Gefängnis müssen, aber früher wieder frei sein – war es nicht das, worum sie kämpfte?

Ja, sie kämpfte darum, war aber nicht willens, für dem Erfolg den Preis ihrer Bloßstellung als Analphabetin zu zahlen. Sie würde auch nicht wollen, daß ich ihre Selbstdarstellung für ein paar Gefängnisjahre verkaufen würde. Sie konnte solchen Handel selbst machen, sie machte ihn nicht, also wollte sie ihn nicht. Ihr war ihre Selbstdarstellung die Gefängnisjahre wert.

Aber war sie’s wirklich wert? Was hatte sie von dieser verlogenen Selbstdarstellung, die sie fesselte, lähmte, nicht sich entfalten ließ? Mit der Energie, mit der sie ihre Lebenslüge aufrechterhielt, hätte sie längst lesen und schreiben lernen können.

Ich habe damals mit Freunden über das Problem zu reden versucht. Stell dir vor, jemand rennt in sein Verderben, absichtlich, und du kannst ihn retten – rettest du ihn? Stell dir eine Operation vor und einen Patienten, der Drogen nimmt, mit denen sich die Anänsthesie nicht verträgt, der sich aber schämt, daß er die Drogen nimmt, und es dem Anänsthesisten nicht sagen will - redest du mit dem Anänsthesisten? Stell dir eine Gerichtsverhandlung vor und einen Angeklagten, der bestraft wird, wenn er nicht offenbart, daß er Linkshänder ist und daher die Tat, die mit der rechten Hand ausgeführt wurde, nicht begangen haben kann, der sich aber schämt, daß er Linkshänder ist – sagst du dem Richter, was los ist? Stell dir vor, daß er schwul ist, die Tat als Schwuler nicht begangen haben kann, sich aber schämt, schwul zu sein. Es geht nicht darum, ob man sich schämen sollte, Linkshänder oder schwul zu sein – stell dir einfach vor, daß der Angeklagte sich schämt.

 

Emilia Galotti: ein Werk des deutschen Dichters Gotthold Ephraim Lessing.