Peter Schneider (1940 -  )

Der Mauerspringer (Erzählung, 1982)

Ich bin letztes Jahr 40 geworden, die beiden Staaten, die das Wort "deutsch" in ihren Initialen führen, haben gerade ihren dreißigsten Geburtstag gefeiert. Ich bin also knapp zehn Jahre älter als der Staat, der da neben und in mir aufgewachsen ist. Schon aus Altersgründen kann ich ihn nicht mein Vaterland nennen. Hinzu kommt, daß dieser Staat nur einen Teil des Landes repräsentiert, das mein Vaterland wäre. Falls mein Vaterland existiert, so ist es kein Staat, und der Staat, dessen Bürger ich bin, ist kein Vaterland. Wenn ich auf die Frage nach meiner Nationalität ohne Zögern antworte, ich bin Deutscher, so optiere ich damit offensichtlich nicht für einen Staat, sondern für meine Zugehörigkeit zu einem Volk, das keine staatliche Identität mehr besitzt. Damit behaupte ich aber gleichzeitig, daß meine nationale Identität nicht an meine Zugehörigkeit zu einem der beiden deutschen Staaten gebunden ist.

Dasselbe gilt für die Behauptung "Ich komme aus Deutschland". Entweder hat der Begriff keinen Sinn, oder ich spreche von einem Land, das auf keiner politischen Landkarte verzeichnet ist. Solange ich von einem Land namens Deutschland spreche, spreche ich weder von der DDR noch von der BRD, sondern von einem Land, das nur in meiner Erinnerung oder Vorstellung existiert. Gefragt, wo es liegt, wüßte ich keinen anderen Aufenthaltsort zu nennen als seine Geschichte und die Sprache, die ich spreche.

Wenn ein Vaterland der Deutschen weiterhin existiert, so hat es am ehesten in ihrer Muttersprache überlebt, und wenn es wahr ist, daß das Land vom Vater und die Sprache von der Mutter stammt, so hat sich das mütterliche Erbe als stärker erwiesen. Das Wort deutsch bezeichnete ja ursprünglich weder ein Volk noch einen Staat, sondern bedeutete "Volk", "volksmäßig", als Bezeichnung der gemeinsamen Sprache verschiedener Stämme, die die gesprochene Sprache gegen die lateinische Urkunden- und Kirchensprache durchzusetzen begannen. Diese sprachliche Einheit bestand Jahrhunderte vor der Gründung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, und sie hat die Entstehung und den Zerfall aller weiteren unheiligen Reiche überlebt. In einem bestimmten Sinn scheinen die Deutschen also wieder am Ausgangspunkt ihrer Geschichte angelangt: das Wort "deutsch" läßt sich unmißverständlich nur noch als Adjektiv gebrauchen, und zwar nicht in bezug auf Staat oder Vaterland, sondern, soweit von der Gegenwart die Rede ist, in bezug auf ein einziges Substantiv: Sprache. Und wie vor 1000 Jahren kann der Versuch, eine gemeinsame deutsche Sprache zu sprechen, nur mit einer Weigerung anfangen: mit der Weigerung, das Kirchenlatein aus Ost und West nachzuplappern.