Dietrich Schwanitz (1940 - 2004)

Der Campus (Roman, 1995)

 

[…]

"Ich habe die Listen mit den Zwischenprüfungszensuren mitgebracht, wollen Sie sie prüfen?" fragte sie. Dr. Taubert sprach mit Schweizer Akzent, denn sie stammte aus einer Züricher Bildungsbürgerfamilie mit jüdischem Hintergrund. Und weil sie von der ganzen deutschen Misere und ihren Traumata unberührt war, benutzte sie Worte wir "Elite" oder "Leistung" mit der naiven Selbstverständlichkeit eines Kindes, das mit schlafwandlerischer Sicherheit beim Pilzesuchen durch ein Minenfeld wandert.

"Das sind die Punktzahlen für die einzelnen Aufgaben", erklärte sie, indem sie mit einem nikotingefärbten gelben Finger auf eine Zahlenkolonne wies, "das sind die Gesamtergebnisse, und das ist der Zensurenschlüssel." Sie sagte Schlüssel mit Doppelkonsonanten und einer Pause zwischen beiden "s". Hanno mochte den Akzent. Er klang solide und vertrauenerweckend. Er brauchte die Ergebnisse nicht mehr zu kontrollieren.

"Wie ist der Durschschnitt?"

"Zwei, einen Haufen Einser und Dreier, wenige Vierer, zwei Fünfer."

"Ist das nicht zu gut?"

"Im Fachbereich Sprachwissenschaften sind vierundneunzig Prozent der Zensuren Eins und Zwei."

Hanno war verblüfft. "Woher wissen Sie das? Solche Informationen hüten die doch wie Staatsgeheimnisse."

"Ich habe mit dem Fachbereichsplaner Becker ein paar Biere getrunken!"

"Vierundneunzig Prozent, das ist ja ein wirklicher Skandal. Da verlieren ja die Zensuren jede Aussagekraft."

"Nein, die sind wirklich so gut. Weil nämlich die Klausurthemen vorher bekanntgegeben werden."

"Nein."

"Doch."

"Das ist illegal."

"Nicht, wenn es alle tun. Auf diese Weise heben sie das Niveau. Da die Studenten die Themen schon vorher kennen, bringen sie zu den Klausurterminen die fertigen Arbeiten mit."

"Und was machen sie dann in den fünf Stunden der Klausur? Däumchendrehen?"

"Sie kopieren die mitgebrachten Arbeiten auf die offiziellen Klausurbögen."

Obwohl er eigentlich nicht mehr rauchte, ließ sich Hanno von Veronika eine Zigarette geben.

"Aber da gibt es ja keine Garantie, daß die Arbeiten auch von den Prüflingen stammen!"

"Deshalb sind sie ja so gut."

Beide mußten lachen. Aber in Wirklichkeit hatte Hanno Mühe zu glauben, was er da erfuhr. Das war ja der reinste Sumpf! Ein Abgrund an Korruption. Er hatte schon vorher gewußt, daß bei den Philologen die Bewertungsstandards einem Bergrutsch zum Opfer gefallen waren, denn als Kultursoziologe hatte er viel mit Literaturwissenschaftlern zu tun. Aber daß sie so schamlos ihre Prüfungen als Farce organisierten, hatte er nicht gewußt.

"Wissen Sie was, Veronika?" sagte er mit einer plötzlichen Wendung und deutete auf die Liste auf seinem Schreibtisch - da schrillte das Telefon. Hanno sagte noch: "Wir setzen für die Bewertung der Klausuren Ihr Schema eine Zensur nach unten", und nahm dann den Hörer ab.

"Ja? Hier Hackmann."[…]

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Zwischenprüfung