Uwe Timm (1940
- )
Am Beispiel meines Bruders (Roman, 2003)
Ich komme aus dem Garten in die Küche, wo die Erwachsenen stehen, meine
Mutter, mein Vater, meine Schwester. Sie stehen da und sehen mich an. Sie
werden etwas gesagt haben, woran ich mich nicht mehr erinnere, vielleicht:
Schau mal, oder sie werden gefragt haben: Siehst du etwas? Und sie werden zu
dem weißen Schrank geblickt haben, von dem mir später erzählt wurde, es sei ein
Besenschrank gewesen.
Dort, das hat sich als Bild mir genau eingeprägt, über dem Schrank,
sind Haare zu sehen, blonde Haare. Dahinter hat sich jemand versteckt - und dann
kommt er hervor, der Bruder, und hebt mich hoch. An sein Gesicht kann ich mich
nicht erinnern, auch nicht an das, was er trug, wahrscheinlich Uniform, aber
ganz deutlich ist diese Situation: Wie mich alle ansehen, wie ich das blonde
Haar hinter dem Schrank entdecke, und dann dieses Gefühl, ich werde hochgehoben
- ich schwebe. Es ist die einzige Erinnerung an den 16 Jahre älteren Bruder,
der einige Monate später, Ende September, in der Ukraine schwer verwundet
wurde.
30.9.1943
Mein Lieber Papi
Leider bin ich am 19. schwer verwundet ich bekam ein Panzerbüchsenschuß durch
beide Beine die die sie mir nun abgenommen haben. Daß rechte Bein haben sie
unterm Knie abgenommen und dass linke Bein wurde am Oberschenkel abgenommen
sehr große Schmerzen habe ich nicht mehr tröste die Mutti es geht alles vorbei
in ein paar Wochen bin ich in Deutschland dann kanns Du Mich besuchen ich bin
nicht waghalsig gewesen.
Nun will ich schließen.
Es Grüßt Dich und Mama Uwe und alle
Dein Kurdel
Am 16.10.1943 um 20 Uhr starb er in dem Feldlazarett 623.
Abwesend und doch anwesend hat er mich durch meine Kindheit begleitet,
in der Trauer der Mutter, den Zweifeln des Vaters, den Andeutungen zwischen den
Eltern. Von ihm wurde erzählt, das waren kleine, immer ähnliche Situationen, die
ihn als mutig und anständig auswiesen. Auch wenn nicht von ihm die Rede war,
war er doch gegenwärtig, gegenwärtiger als andere Tote, durch Erzählungen,
Fotos und in den Vergleichen des Vaters, die mich, den Nachkömmling,
einbezogen.
Mehrmals habe ich den Versuch gemacht, über den Bruder zu schreiben.
Aber es blieb jedes Mal bei dem Versuch. Ich las in seinen Feldpostbriefen und
in dem Tagebuch, das er während seines Einsatzes in Rußland geführt hat. Ein
kleines Heft in einem hellbraunen Einband mit der Aufschrift Notizen. Ich
wollte die Eintragungen des Bruders mit dem Kriegstagebuch seiner Division, der
SS-Totenkopfdivision, vergleichen, um so Genaueres und über seine Stichworte
Hinausgehendes zu erfahren. Aber jedesmal, wenn ich in das Tagebuch oder in die
Briefe hineinlas, brach ich die Lektüre schon bald wieder ab.
Ein ängstliches Zurückweichen, wie ich es als Kind von einem Märchen
her kannte, der Geschichte von Ritter Blaubart. Die Mutter las mir abends die
Märchen der Gebrüder Grimm vor, viele mehrmals, auch das Märchen von Blaubart,
doch nur bei diesem mochte ich den Schluß nie hören. So unheimlich war es, wenn
Blaubarts Frau nach dessen Abreise, trotz des Verbots, in das verschlossene
Zimmer eindringen will. An der Stelle bat ich die Mutter, nicht weiterzulesen.
Erst Jahre später, ich war schon erwachsen, habe ich das Märchen zu
Ende gelesen. Da schloß sie auf, und wie die Türe aufging, schwomm ihr ein
Strom Blut entgegen, und an den Wänden herum sah sie tote Weiber hängen, und
von einigen waren nur die Gerippe noch übrig. Sie erschrak so heftig, daß sie
die Türe gleich wieder zuschlug, aber der Schlüssel sprang dabei heraus und
fiel in das Blut. Geschwind hob sie ihn auf und wollte das Blut abwaschen, aber
es war umsonst, wenn sie es auf der einen Seite abgewischt, kam es auf der
anderen Seite wieder zum Vorschein.
Ein anderer Grund war die Mutter. Solange sie lebte, war es mir nicht
möglich, über den Bruder zu schreiben. Ich hätte im voraus gewußt, was sie auf
meine Fragen geantwortet hätte. Tote soll man ruhen lassen. Erst als auch die
Schwester gestorben war, die letzte, die ihn kannte, war ich frei, über ihn zu
schreiben, und frei meint, alle Fragen stellen zu können, auf nichts, auf
niemanden Rücksicht nehmen zu müssen. Hin und wieder träume ich vom Bruder.
Meist sind es nur Traumfetzen, ein paar Bilder, Situationen, Worte.
Ein Traum hat sich mir recht genau eingeprägt. Jemand will in die
Wohnung eindringen. Eine Gestalt steht draußen, dunkel, verdreckt, verschlammt.
Ich will die Tür zudrücken. Die Gestalt, die kein Gesicht hat, versucht, sich
hereinzuzwängen. Mit aller Kraft stemme ich mich gegen die Tür, dränge diesen
gesichtslosen Mann, von dem ich aber bestimmt weiß, daß es der Bruder ist,
zurück. Endlich kann ich die Tür ins Schloß drücken und verriegeln. Halte aber
zu meinem Entsetzen eine raue, verfetzte Jacke in den Händen.
Der Bruder und ich. In anderen Träumen hat er dasselbe Gesicht wie auf
den Fotos. Nur auf einem Bild trägt er Uniform. Von dem Vater gibt es viele
Fotos, die ihn mit und ohne Stahlhelm, mit Feldmütze, in Dienst- und in
Ausgehuniform, mit Pistole und mit Luftwaffendolch zeigen. Vom uniformierten
Bruder hingegen findet sich nur diese eine Aufnahme, die ihn, den Karabiner in
der Hand, bei einem Waffenappell auf dem Kasernenhof zeigt. Er ist darauf nur
von fern und so undeutlich zu sehen, daß allein meine Mutter behaupten konnte,
sie habe ihn sofort erkannt.
Ein Foto, das ihn in Zivil zeigt, wahrscheinlich zu der Zeit
aufgenommen, als er sich freiwillig zur Waffen-SS meldete, habe ich, seit ich
über ihn schreibe, in meinem Bücherschrank stehen: Ein wenig von unten
aufgenommen, zeigt es sein Gesicht, schmal, glatt, und die sich andeutende
steile Falte zwischen den Augenbrauen gibt ihm einen nachdenklichen strengen Ausdruck.
Das blonde Haar ist links gescheitelt. Eine Geschichte, die von der Mutter
immer wieder erzählt wurde, war die, wie er sich freiwillig zur Waffen-SS
melden wollte, sich dabei aber verlaufen hatte. Sie erzählte es so, als wäre
das, was dann danach kam, vermeidbar gewesen. Eine Geschichte, die ich so früh
und so oft gehört habe, daß ich alles wie miterlebt vor mir sehe.
1942, im Dezember, an einem ungewöhnlich kalten Tag, spätnachmittags,
war er nach Ochsenzoll, wo die SS-Kasernen lagen, hinausgefahren. […]
[…] 1,85 groß, blond, blauäugig. So wurde er Panzerpionier in der
SS-Totenkopfdivision. 18 Jahre war er alt. […]
der Erwachsene - the adult
die Erinnerung - the memory
der Besenschrank - the broom cupboard
sich verwunden - to be wounded
blicken - to look
das Feldlazarett - the field hospital
verstecken - to hide
der Oberschenkel - the thigh
der Bruder - the brother
waghalsig - daredevil
das Beispiel - the example
troesten - to comfort
schweben - to float
ruhen - to rest
die Feldpost - army postal service
das Tagebuch - the diary
die SS-Totenkopfdivision - SS Elite Division