Christa Wolf  (1929 -  )

 

Der geteilte Himmel  (Erzählung, 1963)

 

[…]Sie gingen die Straße hinunter bis an einen großen runden Platz, der, fernab vom Verkehr, um diese Zeit fast einsam war. Sie blieben an seinem Rand stehen, als scheuten sie sich, die Ruhe zu verletzen. Eine merkwürdige, aus vielen Farben gemischte Tönung, die über dem Platz lag, lenkte ihre Blicke nach oben. Genau über ihnen verlief, quer über dem großen Platz, die Grenze zwischen Tag- und Nachthimmel. Wolkenschleier zogen von der schon nachtgrauen Hälfte hinüber zu der noch hellen Tagseite, die in unirdischen Farben verging. Darunter - oder darüber? - war Glasgrün, und an den tiefsten Stellen sogar noch Blau. Das Stückchen Erde, auf dem sie standen - eine Steinplatte des Bürgersteigs, nicht größer als ein Meter im Quadrat -, drehte sich der Nachtseite zu.

Früher sichten sich Liebespaare vor der Trennung einen Stern, an dem sich abends ihre Blicke treffen konnten. Was sollen wir uns suchen?

"Den Himmel wenigstens können sie nicht zerteilen", sagte Manfred spöttisch. Den Himmel? Dieses ganze Gewölbe von Hoffnung und Sehnsucht, von Liebe und Trauer? "Doch", sagte sie leise. "Der Himmel teilt sich zuallererst."[…]