Christa Wolf  (1929 -  )

 

Nachdenken über Christa T. (Roman, 1968)

 

Nachdenken, ihr nach - denken. Dem Versuch, man selbst zu sein. So steht es in ihren Tagebüchern, die uns geblieben sind, auf den losen Blättern der Manuskripte, die man aufgefunden hat, zwischen den Zeilen der Briefe, die ich kenne. Die mich gelehrt haben, daß ich meine Erinnerung an sie, Christa T., vergessen muß. Die Farbe der Erinnerung trügt.

 

So müssen wir sie verloren geben?

 

Denn ich fühle, sie schwindet. Auf ihrem Dorffriedhof liegt sie unter den beiden Sanddornsträuchern, tot neben Toten. Was hat sie da zu suchen? Ein Meter Erde über sich, dann der mecklenburgische Himmel, die Lerchenschreie im Frühjahr, Sommergewitter, Herbststürme, der Schnee. Sie schwindet. Kein Ohr mehr, Klagen zu hören, kein Auge, Tränen zu sehen, kein Mund, Vorwürfe zu erwidern. Klagen, Tränen, Vorwürfe bleiben nutzlos zurück. Endgultig abgewiesen, suchen wir Trost im Vergessen, das man Erinnerung nennt.

 

Vor dem Vergessen, beteuern wir aber doch, müsse man sie nicht schützen. Da beginnen die Ausreden: Vor dem Vergessenwerden, sollte es heißen. Denn sie selbst, natürlich, vergißt oder hat vergessen, sich, uns, Himmel und Erde, Regen und Schnee. Ich aber sehe sie noch. Schlimmer: Ich verfüge über sie. Ganz leicht kann ich sie herbeizitieren wie kaum einen Lebenden. Sie bewegt sich, wenn ich will. Mühelos läuft sie vor mir her, ja, das sind ihre langen Schritte, ja, das ist ihr schlenkriger Gang, und da ist, Beweis genug, auch der große rotweiße Ball, dem sie am Strand nachläuft. Was ich höre, ist keine Geisterstimme: Kein Zweifel, sie ist es, Christa T. Beschwörend, meinen Verdacht betäubend, nenne ich sogar ihren Namen und bin ihrer nun ganz sicher. Weiß aber die ganze Zeit: Ein Schattenfilm spielt ab, einst durch das wirkliche Licht der Städte, Landschaften, Wohnräume belichtet. Verdächtig, verdächtig, was macht mir diese Angst?

 

Denn die Angst ist neu. Als sollte sie noch einmal sterben, oder als sollte ich etwas Wichtiges versäumen. Zum erstenmal fällt mir auf, daß sie sich seit Jahr und Tag in meinem Innern nicht verändert hat und daß da keine Veränderung mehr zu hoffen ist. Nichts auf der Welt und niemand wird ihr dunkles, fußliges Haar grau machen, wie das meine. Keine neuen Falten werden in ihren Augenwinkeln hervortreten. Sie, die Ältere, nun schon jünger: Fünfunddreißig, schrecklich jung. Da weiß ich: Das ist der Abschied. Das Ding dreht sich noch, schnurrt dienstbeflissen, aber zu belichten ist da nichts mehr, mit einem Ruck springt das schartige Ende heraus, dreht mit, einmal, noch einmal, stoppt den Apparat, hängt herab, bewegt sich wenig in dem leichten Wind, der da immer geht.

 

Die Angst, ja doch.

 

Fast wäre sie wirklich gestorben. Aber sie soll bleiben. Dies ist der Augenblick, sie weiterzudenken, sie leben und ältern zu lassen, wie es jedermann zukommt. Nachlässige Trauer und ungenaue Erinnerung und ungefähre Kenntnis haben sie zum Schwinden gebracht, das ist verständlich. Sich selbst überlassen, ging sie eben, das hat sie an sich gehabt. In letzter Minute besinnt man sich darauf, Arbeit an sie zu wenden.

 

Etwas von Zwang ist unleugbar dabei. Zwingen, wen? Sie? Und wozu? Zu bleiben? -Aber die Ausreden wollen wir hinter uns lassen.

 

Nein: daß sie sich zu erkennen gibt.[...]